Peter Michael Lingens: Flüchtlingsetikettenschwindel

Peter Michael Lingens: Flüchtlings-Etikettenschwindel

Es ist verfrüht, Humanität mit ihrem ökonomischen Nutzen zu begründen. Vorerst kosten sie Geld.

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In Deutschland ereignet sich Verblüffendes: Kaum haben Angela Merkel und Wolfgang Schäuble „Wir schaffen das!“ gesagt, entdecken deutsche Ökonomen den Nutzen von Staatsausgaben für die Wirtschaft: „Sowohl in diesem wie im kommenden Jahr rechnen Experten mit einem leichten Zuwachs des BIP“, diagnostiziert die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ die „kurzfristigen Auswirkungen“ des Flüchtlingszustroms für die deutsche Wirtschaft und zitiert Holger Sandte, Europa-Volkswirt der Nordea-Bank, der aufgrund von 5,4 Milliarden Mehraufwand für Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen schon 2015 ein Mehrwachstum von 0,2 Prozent erwartet. Andreas Rees, Deutschland-Chefvolkswirt der Unicredit, sieht das BIP „mittelfristig“ bereits um 1,7 Prozent wachsen, „wenn man davon ausgeht, dass jeder zweite Flüchtling einen Job findet“, und Daimler-Chef Dieter Zetsche erwartet gar „ein neues Wirtschaftswunder“. Selbst der Volkswirt und „Wirtschaftsweise“ Christoph Schmidt hält „positive Effekte der Flüchtlingsbewegung für möglich“. Ich ebenfalls, wenn auch frühestens in fünf Jahren. So lange dauert es mindestens, bis eine messbare Zahl von Flüchtlingen einen Job gefunden hat – bis das Gros beschäftigt ist, könnten auch 15 Jahre vergehen.

Dass die Hälfte der in Deutschland eingelangten Syrer eine höhere Schulbildung hat, ist nicht identisch mit einer Berufsausbildung. Deutschlands Arbeitsministerin Andrea Nahles weist darauf hin, dass der syrische Zahnarzt oder Ingenieur trotz 25 Prozent Akademikern unter den syrischen Flüchtlingen nicht die Regel ist. Zehn Prozent haben gar keine Ausbildung, und unter den Flüchtlingen aus Afghanistan dürfte dieser Prozentsatz weit höher sein. (Alle Zahlen sind vorläufig und mit der notwendigen Vorsicht zu betrachten.)

Nahles ortet daher – wie ich meine zu Recht – vorerst steigende Arbeitslosenzahlen. Erst mit einer Verspätung, deren Ausmaß schwer zu kalkulieren ist, werden die Flüchtlinge dank ihrer Arbeitsleistung letztlich mehr einbringen, als sie den deutschen Staat gekostet haben. Da Deutschlands arbeitsfähige Bevölkerung bis 2030 um neun Millionen Menschen schrumpfen wird, ist zum Erhalt seiner Wirtschaftskraft Zuwanderung grundsätzlich unverzichtbar – und natürlich kann sie auch aus Flüchtlingen bestehen.

Aber dass das der optimale Weg ins nächste Wirtschaftswunder wäre, ist eine kühne Behauptung: Die Aufnahme spanischer oder italienischer Ingenieure oder Ärzte wäre für Deutschland entschieden lukrativer, denn ihre Berufsausbildung ist der deutschen vergleichbar, und arbeitswillig sind sie auch. Ich bin gegen Etikettenschwindel: Flüchtlinge soll (muss) man aus humanitären Gründen aufnehmen – wie sich das wirtschaftlich auswirkt, ist von Land zu Land verschieden und nur dort ein Vorteil, wo die Wirtschaft gut funktioniert.

Der Sparpakt Merkels & Schäubles erschwert massiv die Aufnahme von Flüchtlingen in allen Ländern außer Deutschland.

Richtig ist nur die Überlegung: Wenn der Staat mehr Wohnbauten, Schulen, Spitäler, E-Werke und so weiter errichtet, schafft er Arbeitsplätze. Und wenn mehr Menschen beschäftigt sind, nützt das der Wirtschaft. Das ist, auf zwei Sätze reduziert, die zentrale These von John M. Keynes, die ihn in Zeiten schwächelnder Nachfrage und steigender Arbeitslosigkeit Investitionen des Staates fordern lässt.

Wenn die Ökonomen, die Angela Merkel und Wolfgang Schäuble beraten, das immer so begriffen hätten, wie sie es jetzt im Zuge der Flüchtlingsdebatte zu begreifen scheinen, hätten sie die beiden vielleicht doch davor gewarnt, alle Länder der EU durch einen Sparpakt zu knebeln, der ihre wirtschaftliche Erholung massiv behindert.

Die Wahrheit ist, dass dieser Sparpakt auch die Aufnahme von Flüchtlingen in allen Ländern außer Deutschland massiv erschwert. Denn sie haben ja nicht, wie Deutschland, zu wenige Arbeitskräfte für zu viel Arbeit, sondern zu viele Arbeitskräfte für zu wenig Arbeit. Italien zum Beispiel hat nicht, wie Deutschland, 600.000 offene Stellen, sondern 3,6 Millionen Arbeitslose – von Griechenland oder Spanien gar nicht zu reden. Und natürlich wachsen auch Ex-Ostblock-Staaten angesichts der wirtschaftlichen Kontraaktion in ihrer Umgebung langsamer als zuvor. Ich habe hier ein Dutzend Mal erklärt, dass Deutschland als einziges Land nur deshalb dennoch passabel wirtschaftlich wächst, weil es in den USA oder China abzusetzen vermag, was es in der EU nicht mehr unterbringt. Alle (alle!) anderen Staaten haben ihr einstiges BIB nicht wieder erreicht und ihre Staatschuldenquote seit dem Sparpakt erhöht.

Zwar scheint jetzt immerhin sicher, dass die Aufwendungen, die sie für die Versorgung der Flüchtlinge tätigen müssen (und natürlich sind es für viele Jahre Mehraufwendungen, ehe es durch die Arbeit dieser Flüchtlinge Mehreinnahmen werden), bei der Berechnung des vom Sparpakt gestatteten Defizits nicht berücksichtig werden – aber das ist viel zu wenig.

Es muss in ganz Europa zu staatlichen Investitionen kommen, die mehr Arbeitslosen Beschäftigung schaffen, als der zweifellos nötige Bau von Flüchtlingsunterkünften.

Sonst wird der Flüchtlingsstrom unvermeidbar böses Blut erzeugen.