Peter Michael Lingens: Der Nährboden des Terrors
Manches kann man mit 50 Jahren journalistischer Erfahrung blind zu Papier bringen: „Wahrscheinlich wird sich herausstellen“, so schrieb ich vor einer Woche unmittelbar nach den Anschlägen in Paris, „dass die Attentäter seit längerem im Land gelebt haben, aus einer zweiten oder dritten Einwander- Generation stammen und mangels Job und Integration in irgendeiner Moschee radikalisiert wurden.“
Das war leider auf Punkt und Beistrich richtig: Nicht als Flüchtlinge eingeschleuste syrische Terroristen sondern gebürtige Franzosen, die in Frankreich und Belgien aufwuchsen, haben das Massaker an ihren Landleuten begangen.
Es ist eine Randfrage, ob einer von ihren sich tatsächlich als Flüchtling getarnt und über Griechenland eingereist ist, oder ob eine solche Spur bewusst zur Verwirrung allfälliger Fahnder gelegt worden ist. (wie ein zuständiger deutscher Ermittler bis Donnerstag vermutete.) Natürlich kann es passieren dass Terroristen diesen eher aufwendigen Weg wählen, um in Europa einzureisen – aber es ist eher unwahrscheinlich, denn es stehen ihnen genügend einfache Wege offen.
Bessere Kontrollen an der EU-Außengrenze sind aus allem möglichen Gründen nötig und sinnvoll – Terroranschläge werden sie nicht verhindern.
Deren Nährboden ist das Inland – von den Vororten von Paris über die Vororte von Brüssel bis Neukölln oder Wolfsburg. Die jungen Männer, die dort aus unserem politischen, sozialen und kulturellen System ausscheiden, um sich dem „Islamischen Staat“ anzuschließen, brauchen Syrien nur zum Erlernen diverser terroristischer Handfertigkeiten – ihre psychische und soziale Entgleisung geschieht bei uns.
Diese wirkliche oder empfundene soziale „Zweitklassigkeit“ vermindert das Selbstwertgefühlt und erzeugt Aggression -bei labilen Persönlichkeiten in einem gefährlichen Ausmaß.
Sämtliche Terroristen aus Frankreich stammen aus Familien mit Migrationshintergrund. Alle Wirtschaftsstatistiken zeigen, dass diese Familien in der zweiten Generation weit häufiger als „Einheimische“ von sozialem Abstieg und Arbeitslosigkeit bedroht sind. Oft sind sie – schon gar wenn die Eltern eine andere als die Landessprache sprechen- schlechter ausgebildet. Fast immer tritt Diskriminierung am Arbeits- und am Wohnungsmarkt hinzu. Die Diskriminierung und Ausgrenzung wird in vielen Fällen selbst von denen empfunden, die sozial dem Mittelstand angehören - sie werden vermutlich dennoch kaum von einheimischen Mittelklassefamilien zum Tee gebeten.
Diese wirkliche oder empfundene soziale „Zweitklassigkeit“ vermindert das Selbstwertgefühlt und erzeugt Aggression -bei labilen Persönlichkeiten in einem gefährlichen Ausmaß.
Hinzu tritt die kulturelle Entwurzelung – das Gefühl, weder der einen noch der anderen Nation völlig anzugehören. Das Traumbild einer künftigen Zugehörigkeit zu einem, reichen mächtigen, ja gefürchteten islamischen Staat (an Stelle bisherigen Herkunft aus einem „Vorort“ und der Herkunft der Eltern aus einem Armenviertel Algeriens, Tunesiens oder Marokkos) gewinnt angesichts dieser Entwurzelung gewaltig an Anziehungskraft.
Ein geschickter Agitator in einer Moschee oder einem muslimischen Verein weiß all dies für den Islamischen Staat zu nutzen: Einem jungen verunsicherten Mann einzureden, dass er, der in Frankreich „unten“ und unerwünscht ist und womöglich gerade keine Arbeit hat, im „Islamischen Staat“ erwünscht, geachtet und reich sein wird; dass er seinen Zorn auf Gott und die Welt im „gerechten Kampf“ gegen die Leute loswerden kann, die auf ihn heruntergeschaut haben. (Natürlich gibt es auch psychisch labile Angehörige der ansässigen Bevölkerung, für die das eine Verlockung ist – aber ihr psychischer Defekt muss schon ein ziemlich großer sein.)
Brutalität, wie der IS sie prahlend zur Schau stellt, ist für psychisch Schwache anziehend: so „stark“ wollten sie gerne sein. Abstoßend ist Brutalität nur so lange, als einem nicht gesagt wird, dass man dazu vollauf berechtig ist, weil man in Wirklichkeit viel mehr Macht verdient, als man derzeit hat - auch bei der SA haben sich genügend Männer eingeschrieben, die arbeitslos oder chancenlos waren und meinten, von der Gesellschaft nicht genügend geachtet zu werden.
Ein links und rechts von „Zäunen“ flankiertes Tor ist nichts Rechtextremes.
Weil es den beschrieben Nährboden für IS-Sympathisanten in den meisten europäischen Ländern gibt, wird es unendlich schwer sein, den islamistischen Terrorismus zu bekämpfen. Viel schwerer, als die Bekämpfung des RAF-Terrors, mit dem er manchmal verglichen wird. Denn die RAF hatte zwar unter manchen linken Intellektuellen gewisse Sympathien, aber einen sozialen Nährboden hatte sie nicht. Ihre Behauptung, dass das „Proletariat“ ausgebeutet würde, war zum damaligen Zeitpunkt in unseren Breiten durch nichts gerechtfertigt. Heute hingegen ist die Behauptung, dass arbeitende Menschen prekäre Verhältnisse vorfinden und als Junge wie als Alte „armutsgefährdet“ sein könnten, selbst in Bezug auf Nicht-Migranten keineswegs absurd.
Die gestiegene Jugendarbeitslosigkeit ist selbst für Jugendliche mit Schulabschluss beängstigend. Die aktuelle Wirtschaftspolitik, Staatsausgaben zurückzuschrauben, ist seit guten acht Jahren ein erfolgreicher Beitrag die höchsten Arbeitslosenzahlen der Geschichte zu prolongieren.
Alle diese Probleme haben wie gesagt auch „Einheimische“ – zugewanderte muslimische Familien haben sie zum Quadrat. Die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der „Banlieues“ und „Vororte“ werden daher weitere potentielle IS-Sympathisanten hervorbringen. Der IS-Staat wird ihnen noch eine Weile eine strahlende Zukunft vorgaukeln können – immerhin ist er ein Öl-„Kalifat“. Und flüchtende IS-Attentäter werden in den „Vororten“ leichter als RAF-Attentäter untertauchen können.
Der Tod, wie ihn noch fast alle Attentäter irgendwann letztlich gefunden haben – sie werden früher oder später fast immer aufgespürt und fallen in Feuergefechten - schreckt psychisch labile, sozial gescheiterte Islamisten nicht ab, sondern sie suchen ihn.
Erfolg im Kampf gegen den Terrorismus wird jedenfalls wesentlich davon abhängen, ob man in der Lage ist, ihm den dargestellten Nährboden zu entziehen: Wenn die jungen Männer in den Vororten Europäischer Städte Arbeit und Anschluss finden, wenn ihre Ausbildung sich massiv verbessert und ihre ihre Diskriminierung abnimmt.
Zur Rechten kann (und wird) man vermutlich sagen: Am einfachsten ist es, man nimmt gar keine „Ausländer“ auf. Ich bin dagegen, diesen Einwand als „undurchführbar“ zurückzuweisen.
Er ist allenfalls unanständig.
Ich ziehe jedenfalls Länder vor, die wie Schweden, Kanada oder die USA, eine Kultur der Integration von „Migranten“ entwickelt haben. Und die damit im Übrigen auch wirtschaftlich nicht schlecht, sondern besonders gut gefahren sind. Zum sofort vorgebrachten Einwand, dass auch Schweden derzeit Maßnahmen zur Abwehr von noch mehr Migranten und Flüchtlingen überlegt: Wenn die „Zuwanderer“ in Deutschland einmal so zahlreich wie in Schweden sein werden, gestehe ich auch den Deutschen solche Maßnahmen gerne zu. Und zweifellos muss man den aktuellen Flüchtlingsstrom erheblich verlangsamen und zähmen.
Ein links und rechts von „Zäunen“ flankiertes Tor ist nichts Rechtextremes.