Peter Michael Lingens: Schellings Nagelprobe
Die „größte Steuerreform der Geschichte“ lässt sich auch so beschreiben: Von den 15 Milliarden Euro, die drei VP-Finanzminister der Kaufkraft – und mit ihr der Konjunktur – seit 2009 durch „kalte Progression“ entzogen haben, gibt der vierte 2016 fünf Milliarden zurück. Ob das zur Erholung reicht, wird davon abhängen, ob die in Deutschland dank endlich höherer Reallöhne angesprungene Konjunktur Österreich sowie Mittel- und Westeuropa mitzuziehen vermag und ob Quantitative Easing (QE) nicht nur den Eurokurs weiterhin auf idealem Exportniveau hält, sondern auch die Kreditklemme beseitigt.
Ich wage „im Großen“ keine Prognose. Nur im Kleinen: Mit so gut wie allen Kollegen bezweifle ich stark, dass die „Gegenfinanzierung“ durch den (lobenswerten) Kampf gegen Steuerhinterziehung und (lobenswerte) Einsparungen bei der Verwaltung tatsächlich drei Milliarden einbringen wird. Aber im Gegensatz zu vielen von ihnen halte ich den dadurch vorerst wohl unvermeidlichen weiteren Anstieg der Staatsschulden für sehr viel weniger gefährlich als einen noch stärkeren Einbruch der Konjunktur.
Ich glaube, dass Hans Jörg Schelling das ähnlich sieht.
Damit zu seiner dringendsten Hausaufgabe für die Zukunft: Er muss eine Steuerstrukturreform vorbereiten, die die Steuern endlich sinnvoll umverteilt.
Voran eine kurze Auseinandersetzung mit einem Dogma, das vor allem NEOS-Chef Matthias Strolz oder Agenda-Austria-Chef Franz Schellhorn verkünden: Österreichs Abgabenquote müsse generell sinken. Ich halte das im Gegensatz zu ihnen keineswegs für vordringlich: Eine höhere Abgabenquote als Österreich (43,7 Prozent) haben neben Frankreich oder Belgien (47,5) auch wirtschaftlich so erfolgreiche Länder wie Schweden (44,3), Finnland (44,5) oder Dänemark (51,7).
Im Gegensatz zum NEOS-Dogma hat die Abgabenquote nämlich keinen Einfluss auf den wirtschaftlichen Erfolg. Ich führe als Beleg immer eine diesbezügliche Untersuchung der Wirtschaftsuniversität St. Gallen an, weil mir die besonders unverdächtig scheint, aber mittlerweile gibt es dazu eine umfangreiche Literatur. Österreicher, die dieses Dogma dennoch nachplappern, sollten sich zumindest über eines im Klaren sein: Für die Masse derer, die relativ wenig verdienen, hat eine hohe Abgabenquote den Vorteil, mehr „Umverteilung“ von oben nach unten zu ermöglichen.
Wie immer man dazu steht: Mit Sicherheit ist die hohe Abgabenquote (siehe Schweden) nicht Österreichs zentrales Problem – wohl aber die Herkunft dieser Abgaben und natürlich ihre Verwendung. Hier will ich mich auf ihre Herkunft beschränken und einen von Schellhorn wie Strolz, Arbeiterkammer wie Industriellenvereinigung ständig wiederholten und dennoch ständig missachteten Satz drei Mal unterstreichen: Österreich hat viel zu hohe Abgaben (Lohnsteuern + Sozialversicherungsbeiträge + Kommunalsteuern + Beiträge zum Familienlastenausgleich + Wohnbauförderung usw.) auf „Arbeit“. Ihr Anteil am Abgabenaufkommen liegt mit 57 Prozent massiv über dem Durchschnitt der EU 28 (47,2) und deutlich über dem Durchschnitt der EU 15 (50,2). Wobei der Abgabendruck auf die Niedrigverdiener bis zur aktuellen Reform extrem hoch war und nach wie vor besonders hoch ist.
Diese hohe Abgabenbelastung der Arbeit hat folgende Nachteile:
- Es ist mäßig attraktiv, mehr zu arbeiten, um mehr zu verdienen.
- Es ist sehr attraktiv, schwarz zu arbeiten – zu „pfuschen“.
- Und vor allem leidet die Beschäftigung: Die hohen Lohnkosten erschweren es Unternehmen und Betrieben erheblich, mehr Leute einzustellen.
Die hohen Abgaben auf Arbeit sind also nicht nur für den Einzelnen irritierend, sie sind auch volkswirtschaftlich denkbar kontraproduktiv. OECD, IWF und EU mahnen Österreich daher seit gut zehn Jahren, diese Abgabenlast zu verringern. Bisher ohne Erfolg.
Denn um die Steuern auf Arbeit deutlich zu senken, müsste man andere Massensteuern erhöhen:
- Die Mehrwertsteuer eignet sich dazu insofern am wenigsten, als sie geringe Einkommen stärker als hohe belastet.
- Die (dem Schnitt der EU 15 ohnehin entsprechende) Abgabenbelastung von Unternehmen zu erhöhen, wäre kontraproduktiv.
Bleiben Umweltsteuern, voran solche auf Energie. Ihr Anteil liegt in Österreich mittlerweile unter dem Durchschnitt der industriestarken EU 15, obwohl sie den Klimawandel bremsten und den technologischen Fortschritt beförderten. Und bleiben vermögensbezogene Steuern, wie sie die ÖVP mit aller Gewalt ablehnt. Sie machen in Österreich nur 1,3 Prozent des Steueraufkommens aus, gegenüber fünf Prozent im Schnitt der EU 15.
Dass dabei die Reichsten am extremsten geschont werden, ist eine VP-Sonderleistung – auch wenn SP-Finanzminister Ferdinand Lacina mit der Abschaffung der Erbschaftssteuer dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet hat.
„Blinde Flecken“ im Bereich der Volkswirtschaft sind nicht auf VP-Minister beschränkt.