Leitartikel

Politik im Paralleluniversum

Die Regierung hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Daran ist sie selbst schuld. Schönreden und Realitätsverweigerung werden nicht helfen.

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Die Herbstprognose fällt düster aus. Deutsche Wirtschaftsforschungsinstitute warnen wegen explodierender Gaspreise vor langer Rezession und erheblichen Wohlstandsverlusten. In Österreich ist die Lage nicht erfreulicher, im Gegenteil: Die Inflationsrate kletterte schon im September auf zweistellige Rekordwerte, kein Ende  in Sicht, bei Energiekrise, Teuerung, Krieg genauso wenig. Bloß traut sich diese unangenehmen Wahrheiten kaum jemand auszusprechen. Ganz so, als ob die dramatische Zeitenwende nicht stattfinden würde, wenn man sie nur lange und beharrlich genug ignoriert.

Mehr noch: Wer das Spitzenpersonal beobachtet, kann manchmal den Eindruck gewinnen, dass sich die Politik in ein Paralleluniversum flüchtet. Und dort einfach so weitermacht, als wäre nichts geschehen und ungerührtes Business as usual angesagt.

Beispiele gefällig? 

Aus der Kategorie symbolische Kleinigkeit: Die skurrilen Szenen aus den Tiroler Landesparteien, wo Funktionäre in aufgesetzten Jubel für die Fernsehkameras ausbrechen – obwohl empfindliche Verluste zu verdauen sind. Dieses seltsame Ritual wirkte schon in Normalzeiten künstlich, in Krisenzeiten erscheint es wie blanke Realitätsverleugnung.

Oder aus der Kategorie banales politisches Handwerk: Klimakatastrophe hin, Energiekrise her – seit dem Antritt von Türkis-Grün wurden keine großen neuen Ökostromprojekte mehr gestartet, weil die Regierung sich bisher nicht über die technische Voraussetzung dafür (die sogenannte Marktprämienverordnung) einigen konnte. Klingt dilettantisch, ist es auch, schon deshalb, weil 40 Windkraftanlagen auf ihren Start warten. Wenn die von Klimaschutzministerin Leonore Gewessler versprochene Energiewende in derartigem Brodel-tempo weitergeht, wird sie ewig ein leeres Versprechen bleiben. Hat niemand verinnerlicht, dass kleinliches Gezänk und gemächliches Administrieren in Krisen reichlich dürftig sind? 

Und aus der Kategorie politische Führung: Seit Monaten versichert die Koalition so treuherzig wie faktenarm, sie habe alles im Griff, niemand müsse sich Sorgen machen. Die Bevölkerung ist aber beunruhigt, aus sehr nachvollziehbaren Gründen. Eine große Krisenrede des Kanzlers könnte Orientierung geben, ehrliche Krisenkommunikation der Koalition auch. Betonung auf könnte: Beides lässt auf sich warten.

Von schlechter Show lässt sich niemand blenden, dazu sind die Zeiten zu ernst.

Überkommene Rituale, unerfüllte Versprechen, geballtes Schönreden. Diese Einzelteile fügen sich zu einem Bild – und haben fatale Konsequenzen: veritablen Glaubwürdigkeitsverlust der Politik. Wenn Wahlniederlagen zu Siegen umgedeutet werden, wer soll dann andere politische Aussagen ernst nehmen? Wenn die politische Realität von politischen Slogans weit entfernt ist, wer soll noch in die Tatkraft der Politik vertrauen? Wenn das Gefühl vorherrscht, die Regierung berichte nicht die ganze Wahrheit, sondern beruhige lediglich, wer soll ihr folgen? Von schlechter Show lässt sich niemand blenden, dazu sind die Zeiten zu ernst.

Oft beklagt die Regierung – mit Recht, wohlgemerkt –, dass sie ein milliardenschweres Antikrisenpaket nach dem anderen schnürt, in der Bevölkerung aber dennoch das Gefühl vorherrscht, die Regierung unternehme nichts. Dieser Eindruck des Nichtstuns ist in der Tat ungerecht. Bloß: Am Glaubwürdigkeitsproblem ist die Regierung selbst schuld: zu oft Probleme kalmiert, zu oft hohle Rituale abgespult, zu oft ohne Anlass gejubelt.  Wenn zu häufig ein falscher Eindruck erweckt wird, stößt auch richtige Politik auf Vorschussmisstrauen.

Niemand stellt überhöhte Erwartungen. Die multiplen Krisen toben international, die Regierung hat sie weder verursacht, noch verfügt sie über geheimnisvolle Wunderrezepte, Krieg, Energiekrise, Teuerung, Klimakatastrophe, Coronapandemie flugs im Alleingang zu lösen. Das verlangt auch niemand. Gefragt ist aber Ehrlichkeit im Umgang mit Krisen und Fehlern. Die Wahrheit ist der Bevölkerung  zumutbar. Dazu gehört auch, nicht trotzig darauf zu beharren, „immer alles richtig gemacht“ zu haben: Es wird der ÖVP nicht zu mehr Glaubwürdigkeit verhelfen, Korruptionsvorwürfe gegen sie kleinzureden und sich larmoyant in die Opferrolle zu flüchten. Und es wird SPÖ und Grüne nicht weiterbringen, wenn sie hartnäckig behaupten, die wieder steigenden Asylzahlen existieren einfach nicht. Davon verschwinden weder Korruptionsermittlungen noch Asylproblem. Sie zu ignorieren, hilft nur jenen Parteien, die mit ständigem Alarmismus Geschäft betreiben, also etwa der FPÖ, dem Comeback-Kid der Innenpolitik.

Die Ergebnisse der Tirol-Wahl sind Warnsignal, wie weit der Glaubwürdigkeitsverlust bereits fortgeschritten ist: ÖVP und Grüne abgestraft, NEOS verharren auf Kleinparteienniveau. SPÖ mit nur mickrigem Gewinn und auf Platz 3 verwiesen, und das, obwohl das rote Kernthema Teuerung den Wahlkampf dominierte. Vertrauensbeweise sehen anders aus.

Die multiplen Krisen erfordern andere, neue Formen der Politik. Alles andere ist Realitätsverweigerung.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin