Politik in der schwierigen Herz-Hirn-Falle
Würden Sie zu einem Friseur gehen, der Ihnen fröhlich erklärt, dass er noch nie Haare geschnitten hat? Oder einer Bankberaterin vertrauen, die Ihnen versichert, dass der Kopfpolster der beste Aufbewahrungsort für Geld ist? Oder einem Automechaniker, der überzeugt ist, dass das System Autoverkehr eine Fehlentwicklung darstellt? Wahrscheinlich eher nicht.
In den meisten Berufsfeldern gehört ein gewisses Basisvertrauen in das eigene Geschäftsmodell zur Grundvoraussetzung, Expertise schadet auch nicht. Nur in der Politik gelten derzeit andere Regeln. Als sogenannte Altparteien Geschmähte haben Pfui-Status und werden nach hinten durchgereicht, dafür punkten Anti-Parteien – von den Systemstürmern der FPÖ über Retrokommunisten bis zu Punkrocker Dominik Wlazny. An Programm hat das Familienunternehmen Bierpartei wenig zu bieten, liegt aber in Umfragen für die Nationalratswahl gleichauf mit Grünen und NEOS.
Charismatische Führungsfiguren ziehen: Kay-Michael Dankl in Salzburg, Typus netter Sozialarbeiter, oder Dominik Wlazny, Typus frecher Rebell, werden als authentische Aushängeschilder empfunden und wirken als Antipolitiker wie ein Gegenprogramm zur Politikverdrossenheit. Sie bedienen perfekt die Sehnsucht nach Politikern, die anders auftreten, anders sprechen, anders sind.
So weit, so gar nicht schlecht: Bewegungen neuen Stils können die Politik beleben – wie die Parteineugründungen der Grünen und der NEOS bewiesen haben.
Aber: Der Stock an Proteststimmen ist auf beträchtlichem Level. In der Stadt Salzburg lockte selbst das spannende Bürgermeisterrennen nur 55 Prozent der Wahlberechtigten an. Und auch bei der jüngsten Nationalratswahl 2019, immerhin jene nach der Ibiza-Politbombe, blieb ein sattes Viertel zu Hause. Genauso im Protestsektor finden sich die Rechtspopulisten von der FPÖ, die lautstark gegen das sogenannte System (was immer das genau sein soll) und „Systemlinge“ anwettern. Sie scheiterten zwar mehrmals krachend beim Versuch zu regieren – halten sich aber mit den Zornstimmen an der Poleposition der Umfragen.
Wo bleibt das Gegenkonzept zur Zukunftsangst? Es würde sich durchaus lohnen, darin Zeit und Hirnschmalz zu investieren.
Woher kommt dieses enorme Protestpotenzial, dieses besorgniserregende Misstrauen gegen das System Demokratie? Eine Teilantwort: aus der Überdosis Weltgeschehen. Immer schneller, immer lauter prasseln immer mehr Informationen auf uns alle ein. Was wichtig ist und was nicht, wird schwerer unterscheidbar. Oft siegt das Schrillere. Das führt zu Daueraufgeregtheit, in der vieles gleich bedeutsam erscheint: Wie steht es um den Krieg in der Ukraine, wo steckt Prinzessin Kate, wer hat welche Lösung gegen die Klimakrise, ist US-Präsident Joe Biden geliftet? Eine Nachricht jagt die nächste, im Stakkato-Stil. Atemlos. Und das Wahlvolk wird gereizter und reagiert, gerade nach den Dauerkrisen Corona-Krieg-Teuerung, mit Nachrichtenverweigerung. Ein nicht ungefährlicher Effekt, denn Demokratie lebt von informierten Bürgerinnen und Bürgern.
Die geballten Krisen führen zu Verunsicherung, die weit in die Mitte hineinreicht. Das ist beileibe kein rein österreichisches Phänomen. Florence Gaub war Offizierin der französischen Armee und arbeitet heute als Zukunftsforscherin in Rom. Ihre Kernthese, warum Populisten erfolgreich sind: Viele althergebrachte Säulen der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung ändern sich gleichzeitig, durch Kriege mitten in Europa, neue Energieformen und mehr Migration bis zu neuen Geschlechteridentitäten und Machtverlust des Westens. Wenn sich so viel auf einmal wandelt, klingt die Zukunft nicht mehr verheißungsvoll und spannend – Zeit für Neues! –, sondern eher furchteinflößend.
Unter diesem „future shock“ leiden in Österreich viele: Mit 57 Prozent schaut mehr als die Hälfte der Bevölkerung, so eine Umfrage des ORF, pessimistisch nach vorn. Zukunftsweisende Konzepte für die epochalen Herausforderungen haben die Rechtspopulisten naturgemäß keine parat – aber immerhin emotionale Antworten. Sie versprechen den Menschen: Euer Leben könnte weitergehen wie immer, wenn nur dieses System nicht wäre, diese Migranten, diese abgehobenen Besserwisser-Eliten, die euch gängeln. Wir machen, dass all die Krisen aufhören. Basta.
Die vernünftigen Parteien hingegen finden schwer Zugang zu den Gefühlen der Menschen. Sie stecken in der Herz-Hirn-Falle. Sie klagen, wie komplex die Probleme sind, und versprechen bloß, alles „abzuarbeiten“. Derart technokratische Begriffe elektrisieren nicht und machen keinen Mut. Im Gegenteil: Sie verstärken eher die Angst, wie schwierig die Zukunft wird, wie geprägt von Verzicht und Veränderung zum Schlechteren. Wo bleibt die neue (durchaus emotionale) Erzählung, wo das Plädoyer für Zuversicht, wo das Angebot für wegweisende Politik? Kurz: Wo bleibt das Gegenkonzept zur Zukunftsangst?
Es würde sich für die demokratischen Parteien durchaus lohnen, darin Zeit und Hirnschmalz zu investieren. Das wäre allemal sinnvoller, als sich ein halbes Jahr lang vor einem Wahlsieg der Rechtspopulisten im Herbst zu fürchten.