Rainer Nikowitz: Bewährung
Zu behaupten, dass Karl-Heinz die Termine bei seinem Bewährungshelfer unangenehm gewesen wären, hätte den Kern der Sache nicht ganz getroffen. Er hasste sie.
Es sagte ja wohl alles über den erbarmungslosen Rachefeldzug der linken Siegerjustiz aus, dass es ihr nicht gereicht hatte, ihm dieses Schandurteil umzuhängen und ihn zum einzigen politischen Gefangenen Österreichs zu machen. Also neben dem Meischi natürlich. Nein, sie musste ihm danach auch noch einen natürlich linksdrehenden Besserungsromantiker als Geleitschutz in sein neues, unkriminelles Leben zur Seite stellen, einen von der Sorte: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Wie sollte man mit so einer bescheuerten Grundhaltung jemals Geld verdienen? Wenigstens war der Typ so schlecht angezogen, dass bei ihren gemeinsamen Ausflügen in den Sozialmarkt immer alle dachten, KHG kaufe für ihn ein. Das war aber auch schon sein einziger Vorteil.
„Und, Herr Grasser? Wie war Ihre Woche?“
Durch die zu einem wohl gütig gemeinten Lächeln schief gebleckten Zähne sickerte Karl-Heinz zwiebeliger Kebabdunst entgegen. Nur zart, wahrscheinlich schon mehrere Stunden alt. Aber er witterte Billigkeit immer noch wie ein Jaguar. Nur halt leider nicht mehr aus einem.
„Hat sich bei der Jobsuche vielleicht irgendetwas ergeben?“
KHG schüttelte so grimmig den Kopf, dass sein elastisches Haar erst sechs Sekunden später mit einer letzten, sanft ausrollenden Wellenbewegung wieder völlig zum Stillstand kam. Es schmerzte ihn ungemein, sein Versagen vor diesem Verlierer zugeben zu müssen, der in einer gerechten Welt nicht sein Bewährungshelfer, sondern bestenfalls sein Greenkeeper gewesen wäre. Dabei hatte er wirklich alles versucht. Das machte es ja noch erschütternder.
Dass die Männer-„Vogue“ noch immer nicht geantwortet hatte, obwohl KHG in seinem letzten Angebot ziemlich tabulos seine Bereitschaft unterstrichen hatte, die Schere zwischen jetzt schon lächerlich niedrigem Honorar einerseits und hohem Anteil an gezeigter Haut andererseits bis zum Anschlag aufgehen zu lassen, konnte er zwar verstehen – Printkrise und so, die konnten sich auch nicht mehr jeden Star leisten –, aber nur schwer verkraften. Ja, es waren einige Jahre seit jenen Fotos vergangen, die ganzen Jahrgängen von Sachbearbeiterinnen den Verstand geraubt hatten. Und es waren beileibe keine leichten Jahre gewesen. Aber gerade diese Kerben hatten ihn doch als Mann fraglos nur noch interessanter werden lassen. Fand er.
KHG hatte auch gehofft, dass dies der Schreiberin eines einst sehr berühmten Briefes ebenso auffallen würde – für sie also von „Zu schön, zu jung, zu intelligent“ zumindest noch eines übrig war. Und er hätte auch schwören können, dass sich der Vorhang neben der Tür bewegt hatte, nachdem er geklingelt hatte. Und ja, er hätte möglicherweise vorher anrufen sollen, um seinen Besuch anzukündigen. Aber er hatte sich gedacht: Wann denn sollte man eine alte Verbundenheit wie diese dazu nutzen, dem anderen bei seiner Anlagestrategie ein wenig unter die Arme zu greifen, wenn nicht jetzt sofort?
Also war er lieber gleich hingefahren. Zumal all seinen telefonischen Versuchen, im Stil von Leo DiCaprio – also seinem nur ein wenig schlechter aussehenden Beinahe-Double – in „The Wolf of Wall Street“ Finanzberatung zu betreiben, bisher unerklärlich wenig Erfolg beschieden gewesen war. Nicht einmal der Schüssel Wolfgang hatte ihm für seine sachdienlichen Hinweise auf brandheiße, demnächst abgehende Penny-Stock-Raketen etwas zahlen wollen.
Immerhin hatte er ihm stattdessen ein anderes großherziges Angebot gemacht. Aber selbst wenn es sich Karl-Heinz durchaus zugetraut hätte, die richtige Stelle in der Cello-Partitur beinahe jedes Mal mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erkennen und solcherart also absolut qualifiziert gewesen wäre, bei den Hauskonzerten seines einstigen Mentors punktgenau dessen Cello-Noten umzublättern – das vom immer schon nicht zu Unrecht als knausrig verschrienen Altkanzler in Aussicht gestellte Honorar erschien ihm dann doch eher weniger dazu geeignet, dem Antrag für eine Platin-Kreditkarte genügend Glanz zu verleihen.
„Und … haben Sie denn auch das versucht, was wir letzte Woche besprochen haben?“ Wieder dieses schiefzahnige Lächeln. „Sie wissen schon.“ Tatsächlich hatte Karl-Heinz auch das versucht, ja. Aber seine Schwiegermutter hatte nur gemeint – und zwar übertrieben schnippisch, wie er gefunden hatte –, dass sie sich ihren Koffer schon selber tragen könne. „Hat leider auch nichts gebracht“, murmelte er mit hängenden Schultern.
Doch plötzlich, in diesem Moment tiefer Verzweiflung, passierte es. KHGs Handy läutete. Er schaute auf das Display. „Die Männer-‚Vogue‘“, flüsterte er rissig. Der Bewährungshelfer riss die Augen auf und streckte dann beide Daumen nach oben. Karl-Heinz bewegte seinen Zeigefinger zitternd auf den grünen Knopf zu. Die zweite Chance. Da war sie.