Rainer Nikowitz: Das Findelkind
Mac war nicht wie die anderen Kinder. Das hatte Gernot bald bemerkt, nachdem er ihn bei sich aufgenommen hatte. Es war quasi Liebe auf den ersten Blick gewesen, aber man musste auch zugeben, dass Mac um einiges eigenwilliger war – und das nicht nur äußerlich. Er lief öfter heiß als andere. Und nicht nur dann brauchte er sehr viel Luft. Er war überhaupt am liebsten draußen, nicht so ein Stubenhocker wie die meisten seiner Alterskollegen, die am liebsten den ganzen Tag daheim am Internet hingen. Nein, Mac konnte stundenlang draußen herumtollen, manchmal so lang, bis ihm der Saft ausging und er nicht mehr konnte.
Am längsten wollte er natürlich dann draußen bleiben, wenn sie zu Hause Besuch hatten, der ihm irgendwie Angst machte. Und die machte ihm fast jeder, denn leider fremdelte er sehr stark. Gernot und seine Frau mussten permanent penibelst darauf achten, dass ihm niemand anderer zu nahe kam – oder ihn am Ende gar drückte oder sonst wie unmittelbaren Kontakt mit ihm herstellte. Das konnte Mac nämlich überhaupt nicht ausstehen. Und seine Eltern litten da durchaus mit ihm mit. Es musste irgendwie mit seiner Geschichte zu tun haben – denn schließlich war er ja ein Findelkind. Vielleicht versteckte er sich deshalb auch so gerne und so gut. Manchmal blieb er so lange verschollen, dass sogar Gernot, der in seiner Vaterrolle nun wirklich aufging, fast wieder vergaß, dass er ihn hatte.
Vielleicht spürte Mac aber auch instinktiv, dass das Glück, das er mit seiner neuen Familie gehabt hatte, nicht selbstverständlich war. Und womöglich zerbrechlich. Andere hatten es nämlich nicht so gut. Mitunter hörte man da ja wahre Horrorgeschichten. Manche wurden ausgelöscht, so schnell konnten nicht einmal Staatsanwälte schauen. Und andere gar heimlich geschreddert! Es war eine grausame Welt.
Doch wenn sein Papa trotz der vielen Mühsal, die ihm seine Teilnahme an der Eroberung des Ballhausplatzes bereitete oder auch die harte Erinnerungsarbeit in Untersuchungsausschüssen an Dinge, die er schon wieder vergessen hatte, bevor er sie überhaupt getan hatte, trotzdem die Zeit fand, sich mit Mac zu beschäftigen, dann war sie wieder in Ordnung, die schnöde Welt. Für sie beide. Denn Hauptsache, sie waren zusammen. Sie gingen gemeinsam zu quasi karitativen Abendessen mit Freunden, die Freunde hatten, die vielleicht gerade irgendwie in Not waren und Hilfe brauchten. Oder sie gingen zu Sebastian und spielten „Risiko“, wobei sie ihn immer alle Kontinente erobern ließen; Sebastian verlor nicht so gerne. Meistens blieben sie aber zu Hause. Gernot stellte ihm dann manchmal gern lustige, aber gar nicht einmal so leicht zu lösende Rechenaufgaben wie zum Beispiel diese:
„Herr N. will der Partei V. eine Million Euro spenden. Berechne
a) In wie viele Einzelteile muss diese Spende zerlegt werden, damit sie nicht dem Rechnungshof, den das überhaupt nichts angeht, gemeldet werden muss?
b) Wie hoch ist die Gegenleistung?“
Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber: Mac wusste tatsächlich immer die richtige Antwort. Er wusste überhaupt viel mehr als andere Kinder, von Sachen, von denen die nicht einmal noch gehört hatten. Aber er gab nicht damit an. Im Gegenteil, er war da sehr verschwiegen. Diese Umsichtigkeit und auch Bescheidenheit machte Gernot sehr stolz. Wie auch die Tatsache, dass dieser süße kleine Racker, wann immer sie Räuber und Gendarm spielten, immer nur der Räuber sein wollte. Manchmal stieg Gernot da durchaus die eine oder andere Träne der Rührung ins Auge. Denn bei ihm war das schließlich immer ganz genauso gewesen. Bis heute!
Gernot hätte alles für seinen Mac getan. Sein Beschützerinstinkt war sehr ausgeprägt, das hätte er sich in jüngeren Jahren gar nicht vorstellen können. Aber diesbezüglich konnte halt einfach nur mitreden, wer selber Kinder hatte. In seinen dunkelsten Stunden, in denen Gernot an allem zweifelte, sogar an absoluten Grundpfeilern der politischen Überzeugung, von der ihn Sebastian überzeugt hatte, wie der Abhängigkeit der Justiz, versuchte sich Gernot vorzustellen, was er tun würde, wenn böse Männer kämen und versuchen würden, ihm Mac wieder wegzunehmen. Bei dieser Vorstellung liefen ihm kalte Schauer über den Rücken – und seine Frau instinktiv mit Mac im Kinderwagen wenigstens einmal jegliche Blickachse kappend um die nächste Ecke. Aber Gernot wusste natürlich, dass er dann zweifellos das tun würde, was jeder liebende Vater in so einer dramatischen Situation tun würde: sofort ein paar Anrufe machen. Warnen. Helfen, wo er nur konnte.
Denn andere Väter hatten schließlich auch schöne Macs.