Rainer Nikowitz: Das schwarze Loch
Das Finanzministerium war ein schwarzes Loch. Und das natürlich nicht erst, wie die ruchlose Opposition behauptete, seit es von einem Türkisen geführt werde. Nein, das war schon immer so gewesen. Ehrlich! Die braven Menschen, die hier jeden Tag ein- und ausgingen und ihr Tagewerk verrichteten, die trugen sicherlich keine Verantwortung für all die rätselhaften Vorkommnisse. Für jeden hier im Haus hätte Gernot Blümel sofort ohne mit der Tolle zu zucken die Hand ins Feuer gelegt. Zuvorderst natürlich für sich selbst. Nein, es musste einen anderen Grund geben für das, was hier passierte. Und wenn man lang genug darüber nachdachte, alle Möglichkeiten durchspielte, dann gab es am Ende eigentlich nur eine einzige einigermaßen plausible Erklärung: Es musste das Haus selbst sein! Häuser machten oft die seltsamsten Sachen, das wusste man ja. Sie hatten ein Eigenleben, ächzten, knarzten und stöhnten. In manchen Häusern spukte es. Und manchmal verschluckten sie, wie in "Poltergeist", beinahe ganze Familien. Dagegen war das Finanzministerium ja dann fast schon wieder ein Waisenhaus. Ja, es behielt auch Dinge bei sich. Und zwar für immer. Aber: Das Finanzministerium verschluckte wenigstens nur Akten.
Klar, dass diese wirklich sehr unangenehme Eigenschaft seines Hauses Gernot Blümel mehr als peinlich war. Schließlich war er jener Finanzminister, dem man schon nach gerade einmal eineinhalb Jahren Amtszeit zugestehen musste, es sowohl in puncto Beliebtheit als auch Kompetenz doch tatsächlich mit dem Allergrößten seiner Vorgänger aufnehmen zu können. Wenngleich ihm Karl-Heinz Grasser in mancherlei Hinsicht schon noch einen Schritt voraus war. Vor allem in der Innigkeit seiner Beziehung zum Rechtsstaat. Aber selbst wenn Gernot dies in aller ihm eigenen Bescheidenheit jederzeit dementiert hätte: Auch diesen Rückstand würde er sicher noch aufholen.
Der Finanzminister versuchte alles, um seinem Haus so viele Akten wie nur irgend möglich wieder zu entreißen. Denn selbstverständlich sah er als einer der obersten türkisen Vertreter es als seine nobelste Pflicht an, die Gesetze jenes Landes, dem er so ungeheuer selbstlos diente, penibelst zu achten - und also dem Untersuchungsausschuss alles zu geben, was diesem von Rechts wegen zustand. Alles andere wäre ja vollkommen abgehoben, respektlos, genau genommen: zum Kotzen gewesen. Also mit einem Wort: alles das, was Türkis nicht war. Gernot hatte also eine eigene Taskforce zur Bekämpfung dieses Problems gegründet, die zweitgrößte im Ministerium nach jener, deren Aufgabe es war, alle Fotos, die den Chef von links unten zeigten, einzuziehen und zu vernichten. Gernot fand nämlich, dass er von links unten ein wenig aussah wie Mr. Burns von den "Simpsons". Und der hätte mit seinem grundsympathischen Charakter zwar gar nicht so schlecht zur neuen ÖVP gepasst - hatte aber leider eine Glatze. Die schnelle Search-and-Rescue-Eingreiftruppe zur Akten-Rückeroberung war entsprechend der Schwierigkeit ihrer Aufgabe ein wilder, verwegener Haufen. Ihr Anführer war angeblich sogar einmal bei der Fremdenlegion gewesen. Aber darüber sprach man in der ÖVP begreiflicherweise genauso gern wie über den legendären Auftritt des Kanzlers im Kleinwalsertal. Die Kohorte war auch permanent auf Achse. Hier schnitt sie einen Wandverbau herunter, um einen Haufen Papier zu bergen, der dahinter versteckt war, dort riss sie den Parkettboden auf, nur um Tausende Mails an die Adresse von Gernot Blümel zu finden - und das, obwohl er ja gar keine eigene Adresse hatte! So gut waren diese tapferen Burschen! Selbst vor ausgiebigem Stierln in den Kanalrohren schreckten sie nicht zurück. Und dabei fanden sie vor allem im Abfluss des Privatklos des Ministers immer wieder besonders große Aktenkonvolute. Warum gerade dort? Niemand wusste es. Die Wege dieses Hauses waren einfach unergründlich.
Angesichts dieses ungeheuren Aufwandes, der im Kampf gegen das schwarze Loch betrieben wurde, mutete es natürlich nicht nur für Gernot gelinde gesagt seltsam an, dass der Bundespräsident eine Richterin des Straflandesgerichts Wien damit beauftragt hatte, im Finanzministerium nach eventuell verschollenen Akten zu suchen. Denn einmal abgesehen davon, dass das ja schon wieder eine Juristin war - ein Beruf, der Gernot von Tag zu Tag suspekter erschien - stellte sich die Frage, wie die gute Frau etwas finden wollte, das Gernots Leute, die voller Motivation und bester Absichten Tag und Nacht daran gearbeitet hatten, bis dato nicht gefunden hatten. Auf so eine absurde Idee konnte einfach nur ein Nicht-Türkiser kommen. Darum war es ja so ärgerlich, dass es noch immer welche gab. Aber dieses Problems würde sich die ÖVP schon noch annehmen. Wenn dann die paar kleinen anderen endlich einmal gelöst waren.