Die 25. Stunde
Nun, so ein Jahr hat leider auch nur 24 Stunden. Und die waren prall gefüllt mit weltbewegenden Ereignissen, wie Sie gerade in beeindruckender Breite und kristallklarer Tiefe gelesen haben. In denen ist sich also sonst nicht mehr viel ausgegangen. Allerweil, wir hätten eine 25. Stunde gehabt … Was wir mit der alles anfangen hätten können!
Wir hätten sie zum Beispiel dazu nützen können, zumindest einige der Gräben, die sich in unseren Gesellschaften aufgetan haben, wieder zu überbrücken. Ja! Endlich wieder ein Stück weit aufeinander zugehen, raus aus unseren Echokammern, miteinander reden, versuchen, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen. Das hätten wir machen können. In einer Stunde wäre sich da klarerweise nicht die Welt ausgegangen – aber man hätte ja einmal damit beginnen können, ein paar ganz grundlegende Dinge außer Streit zu stellen. Also wirklich grundlegende. So wie die Dinge gerade liegen, müssen wir die Details eindeutig auf später vertagen.
Wir hätten also zum Beispiel anfangen können mit: Die Sonne geht im Osten auf. Immer und überall, egal ob du im Westen, Norden oder Süden bist. Das mag sehr verwirrend sein – aber es ist keine Verschwörung der Eliten. Regen fällt von oben nach unten. Und auch wenn er sehr stark ist, hat ihn sich Joe Biden nicht zu Thanksgiving von der NASA gewünscht.
Sollte es bei den genannten Beispielen nach einem freundlichen Gespräch allerdings immer noch abweichende Meinungen geben, ist die Beweisführung zugegebenermaßen schwierig. Einfacher ist es da schon mit folgender grundlegender Feststellung: Die Erde ist rund. Gerade daran bestehen ja an manchen gar nicht so versteckten Orten unserer Informationsgesellschaft immer noch Zweifel. Denen man aber sehr effizient begegnen könnte. Zum Beispiel so: „Wenn die Erde eine Scheibe ist – warum fliegen wir dann ewig lang nach Australien, anstatt einfach in den Keller zu gehen?“
Mit geerdeten sachdienlichen Hinweisen wie diesem hätte man auch bei vielen anderen umstrittenen Themen wissenschaftskritische Menschen wieder mit ins Boot der Vernunft bekommen können. „Wenn sie uns wirklich klitzekleine Roboter spritzen, mit denen wir zu willenlosen Sklaven des Systems werden – warum gewinnt dann in einem Land, in dem
80 Prozent gegen Covid geimpft sind, Donald Trump?“ Und schon wäre der Punkt an Sie gegangen. Wenn denn das Jahr 25 Stunden gehabt hätte – und Sie also Zeit.
Spätestens mit der Wiederwahl von Agent Orange ins Weiße Haus als vorläufigen Kulminationspunkt des jahrelangen Trends nach rechts in der gesamten westlichen Welt hat ja auf der linken Seite endgültig das große Grübeln darüber eingesetzt, wie denn das alles passieren konnte. Wie dieser ganz große Graben entstehen konnte, der solche Menschen an die Macht bringt. Und eine gewisse Resistenz gegenüber Fakten, die aus welchen Gründen auch immer als Zumutung empfunden werden, ist bei manchen Teilen des Elektorats – zumal des US-amerikanischen – fraglos ein Faktor. Aber das allein ist es wohl nicht, das Grabensystem ist viel verzweigter.
Also hätte man in dieser 25. Stunde zum Beispiel auch die Gräben zu ratlosen Linken überbrücken können. Idealerweise noch vor den diversen Wahlen, die sie heuer alle verloren haben. Vielleicht hätte man da noch etwas retten können, etwa mit einem freundschaftlichen Rat hinsichtlich einer möglichen thematischen Überbetonung woker Lifestylepolitik bei gleichzeitiger Ausblendung echter, aber ideologisch unerwünschter Probleme: „Altes Indianersprichwort: Wenn du merkst, dass du ein totes Pferd reitest – steig ab!“
Natürlich wäre die Reaktion wohl gewesen: „Wäh, Indianer sagt man nicht!“ Aber Fort Alamo ist auch nicht an einem Tag erbaut worden.
Es ist ja mittlerweile so: Auf der rechten Seite erzeugen unangenehme Wahrheiten Mikroaggressionen – und links Mikrotraumata. Daraus folgt, dass wir uns über alle Gräben hinweg zumindest in einem einig sind: Keiner will sie hören.
Vielleicht könnte ja das der neue Kitt sein, der uns zusammenhält? Jeder macht sich die Welt, wie sie ihm gefällt. Graben hin oder her. Das klingt doch nach einem Plan. Und wer weiß: Vielleicht bleibt uns ja dann nächstes Jahr sogar eine Stunde übrig!