Rainer Nikowitz

Rainer Nikowitz Die Frau Karl

Die Frau Karl

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Immer, wenn die Justizministerin den Jugendknast besuchte – etwas, das sich ähnlich häufig ereignete wie Schnürlregen in der Sahara – ahnte sie, wie unwohl sich Rotkäppchen angesichts des bösen Wolfs gefühlt haben musste. Aber trotz der ungeheuren Überwindung, die ihr der Kontakt mit diesen Gewohnheitsverbrechern abverlangte, fühlte sie doch die moralische Verpflichtung, diesem Bodensatz der Gesellschaft, der schließlich nicht für nichts hier einsaß, bei ihren Sprechstunden klarzumachen, wohin seine weitere Reise gehen würde. Schließlich war sie ja keine Sozialromantikerin – sondern Justizministerin.

Irgendjemand musste den Buben schließlich verklickern, dass sie jetzt, wo sie leider schon in jungen Jahren auf die schiefe Bahn geraten waren – statt bei der Jungen ÖVP ­etwaig aufkeimenden Flausen mit einem Zehntausender-Puzzle oder, wenn man es noch aufregender haben wollte, mit einer CD von sämtlichen Spindelegger-Reden zur Lage der Nation entgegenzuwirken –, dass also nach ihrer leider grundfalschen Entscheidung ihr Leben eigentlich auch schon wieder vorbei war. Irgendwer musste ihnen doch jegliche Hoffnung auf so etwas wie Resozialisierung nehmen – und vor allem auch darauf, dass sich ein Staat wie Österreich angesichts eines Jugendlichen, der einen Blödsinn gemacht hatte, auch nur eine Sekunde um eine solche Resozialisierung bemühen würde.

Nach einem Besuch bei den ­Wachebeamten, denen Beatrix schaudernd riet, angesichts dieser wilden Tiere die Zellentür am ­besten nur zu öffnen, wenn es brannte, ließ sie die Häftlinge ein Spalier bilden, wie es die Ballkinder in Wimbledon vor der Siegerehrung machten. Und dann trippelte die Ministerin mit putzig gespitzten Lippen, die den Eindruck von Interesse erwecken sollten, an ihnen vorbei wie die Herzogin von Clark oder Kent oder wie die hieß und verwickelte den einen oder anderen in ein zwangloses Gespräch.

„Na?“, sagte sie zu einem, der für einen skrupellosen ­Gewalttäter doch noch ziemlich klein war. „Wie alt simma denn?“
„14, Frau Minister.“
„14? Ts, ts, ts! Und was hamma angstellt?“
„Handyraub, Frau Minister.“
„So, so. Na, du bist mir ja ein Früchtchen. Und? Hast du schon festgestellt, dass der Strafvollzug nicht das Paradies ist?“
„Jawohl, Frau Minister. Gestern haben mich die anderen in der Zelle mit einem Besenstiel in den Arsch gefickt.“
„Tja, mein Lieber. Ich sag immer: Wer alt genug für einen Handyraub ist, der ist auch alt genug, um mit einem Besenstiel in den Arsch gefickt zu werden, gell ja?“
„Aber …“
„Nix aber! Sei froh, dass die Situation im Jugendstrafvollzug noch nie so gut war, wie heute. Das werden dir alle
Experten bestätigen – solange du sie nicht fragst. Nur ein Beispiel: Erst, seit ich Ministerin bin, geben sie Kondome auf die Besenstiele!“
Beatrix ließ das heulende Weichei stehen und ging weiter. Wer nicht hören wollte, musste eben manchmal fühlen. Und ein bissl eine harte Hand hatte noch keinem jungen Burschen geschadet.
„Bitte, Frau Minister!“, sagte ein anderer. „Ich habe Angst.“
„Angst? Ja, wovor denn?“
„Ich bin nur in Untersuchungshaft – und die in meiner Zelle prügeln und quälen mich auch dauernd.“
„Tja, Freund der Blasmusik: Wenn du keine schwere Straftat begangen hättest, wärst du nicht in Untersuchungshaft.“
„Aber was, wenn ich freigesprochen werde? Was ist mit der Unschuldsvermutung?“

„Die gilt doch nur für korrupte Mitglieder jener Regierung, die den Jugendgerichtshof abgeschafft hat, Tschapperl! Und komm mir da gar nicht erst mit irgendwelchen Rechten, die du angeblich hast – deine Pflichten kennst ja auch nicht! Und außerdem kannst du noch von Glück ­reden, dass du nicht in einer Zelle mit den wirklich schweren Jungs gelandet bist. Wir haben da nämlich auf Initiative des Bauernbundes – das ist praktisch die NSA von Österreich – und mithilfe des Gottseidank von uns verteidigten § 278a ein paar brandgefährliche Tierschutz-Terroristen dingfest machen können! Da würdest schauen, wenn wir dich zu denen sperren täten!“

Der Bub ließ den Kopf sinken und starrte stumm – und wie Beatrix hoffte: schuldbewusst – zu Boden. Aber jetzt war leider irgendwie die Büchse der Pandora geöffnet. Plötzlich schien hier jeder ein nicht ausreichend berechtigtes Anliegen vorbringen zu wollen. „Ich, bitte, ich!“ – „Frau ­Minister, darf ich was sagen?“ – „Kommen Sie zu mir!“ Sie schrien durcheinander – das konnte Beatrix überhaupt nicht leiden. Konnte man diesem Haufen nicht einmal hier die nötige Disziplin beibringen?

Schnellen Schrittes verließ die Ministerin den Raum. Sie war irgendwie unangenehm berührt. Was war das nur? ­Irgendein unbekanntes Gefühl hatte sich da von hinten angeschlichen und sie überfallen. Das konnte doch nicht … War das etwa …? Ja, doch. Kein Zweifel. Das musste Mitgefühl sein!
Die Frau Karl schüttelte sich kurz ab wie ein nasser Hund. Und dann war zum Glück eh gleich wieder alles beim Alten.

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Rainer   Nikowitz

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