Rainer Nikowitz: Doomsday
Es hatte rasch Einigkeit darüber bestanden, dass eine außergewöhnliche Situation wie diese ebenso außergewöhnliche Maßnahmen erforderte. Die Sicherheit und die Handlungsfähigkeit der Regierung musste gewährleistet bleiben. Natürlich, es gab für solche Fälle den Regierungsbunker im Pongau – in den kam keiner rein (Sicherheit), und man konnte zur Not bis 2018 still drinsitzen (Handlungsfähigkeit). Aber auch diesbezüglich herrschte in der Regierung sehr rasch Einigkeit – und zwar darüber, diese Idee wieder zu verwerfen: Denn wenn sie den Bunker tatsächlich gemeinsam bezogen, hatte dies ja den doch ziemlich augenfälligen Nachteil, dass sie dann gemeinsam drin waren.
So viel Nähe vertrugen sie schon im Normalfall eher schlecht, und jetzt, wo die Scheiße am Dampfen war, erst recht nicht. Vor allem Reinhold konnte nicht mehr umhin, beim Gedanken an Werners fortgesetzte Gesellschaft ein gewisses Unwohlsein zu verspüren. Er hatte auch versucht, es ihm so schonend wie möglich beizubringen, indem er gemeint hatte, er würde im Moment lieber ein Wellnesswochenende im Whirlpool der Kläranlage von Zwettl an der Rodl verbringen – und zwar an jenem Tag, an dem sich diese mit den Folgen des Zwettler Zwiebelkirtags auseinanderzusetzen hatte – als auch nur eine Minute mit Werner gemeinsam in einem Bunker.
Also hatte sich die ÖVP in ein verzweigtes Weinkellersystem unterhalb von Strass im Strassertale zurückgezogen. Klandestine Rückzugsorte wie diesen gab es viele im niederösterreichischen Weinland, in ihnen hatten sich schon die Altvorderen vor allem Unbill versteckt – ob es nun fremde Heerscharen gewesen waren oder die überbordenden Entbehrungen der Fastenzeit. Dass gerade dieser Keller vor mehr als zehn Jahren zur Doomsday-Zentrale der Bundespartei erkoren worden war, war einer Initiative des damaligen Innenministers zu verdanken, dem der Name des Örtchens ausnehmend gut gefallen hatte. Und der wohl befürchtet hatte, die Partei könnte ihn und seine Verdienste ohne diese kleine Stütze dereinst aus dem Gedächtnis verlieren. Wenn man jedenfalls hier unten ein 10.000-Liter-Fass vor die Tür schob, brauchte man sich um die Welt da draußen keine Gedanken mehr zu machen – und man hatte hier unten eigentlich alles, was man brauchte, um jede noch so lange Belagerung zu überstehen. Und falls jemand nach ein paar Tagen Wein doch auch Hunger bekommen sollte, wuchsen an den Wänden sicherlich recht nahrhafte Moose und Flechten.
Der ÖVP-Obmann nahm seine Umwelt nur mehr begrenzt wahr. Wieder einer.
Die SPÖ wiederum hatte sich an einen Platz geflüchtet, an dem ihre Welt noch in Ordnung war: in die Abschmiergrube einer Triebwagenwerkstatt der ÖBB in Wien-Simmering. Angesichts der Umfragen war zwar Simmering auch nicht mehr das, was es früher einmal gewesen war – aber es hätte schon eines ausgesprochen motivierten Eindringlings bedurft, um das schutzzauberartige Netz aus wohlerworbenen Rechten, das hier den Eingang abschirmte, zu durchbrechen. Und selbst dann hätte man ihm immer noch den Ausdruck sämtlicher Betriebsvereinbarungen dermaßen über die Rübe ziehen können, dass es ihm garantiert den Stecker gezogen hätte.
Da saßen sie nun also. Bis auf Reinhold. Der tigerte im ÖVP-Keller auf und ab wie nicht gescheit. Niemand traute sich, ihn anzusprechen. Abgesehen davon hätte aber ohnehin niemand gewusst, was er sagen hätte sollen. Und der Obmann schien seine Umwelt nur mehr begrenzt wahrzunehmen. Wieder einer. „Nicht weiterwurschteln!“, entfuhr es ihm manchmal kantig. Er schüttelte dabei so heftig den Kopf, dass ihm kleine Schaumfetzen vom Mund wegflogen. „Ohne mich“, bellte er dann. Und schließlich stach sein rechter Zeigefinger wütend und ultimativ angespitzt in die Luft: „Neuwahl!“
Aus des Vizekanzlers Worten ging nicht restlos klar hervor, was sich nun worauf genau bezog. Aber nachdem zumindest feststand, dass die „Neuwahl“ spätestens nach ihrer Abhaltung zweifellos das „Ohne mich!“ nach sich gezogen hätte, traute sich erst recht keiner zu fragen.
Bei der SPÖ herrschte mehr ruhige Depression, moderiert von Rudolf Hundstorfer, der durch die Reihen ging und den Genossen erklärte, es sei alles nicht so schlimm und man müsse jetzt nur tun, was man immer getan habe: abwarten.
Sie hatten in den Tagen des Eingekesseltseins in der bleiernen Dunkelheit jegliches Zeitgefühl verloren. Deshalb fuhr es Reinhold bis ins Mark, als der andere Reinhold, sein treuer Lopatka, mit einem Mal sagte: „Es ist so weit.“ Sie rollten das große Fass weg, der Vizekanzler schlich als Erster gebückt ins Freie und nahm Deckung hinter einem Dirndlstrauch. Genau zur selben Zeit ging in Simmering Werner Faymann aus dem ÖBB-Tor und machte sich voller düsterer Gedanken auf den Weg ins Wahllokal. Aber zum Glück war ja der 11. Oktober heute Abend wieder vorbei. Dann konnten sie hoffentlich alle wieder zurück in ihre Bunker. Und dort weitermachen wie bisher.