Rainer Nikowitz

Rainer Nikowitz Fritz und wie er die Welt sah

Fritz und wie er die Welt sah

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Fritz Neugebauer ging es gar nicht gut. Er saß zusammengesunken in seinem Chefsessel und wimmerte leise vor sich hin. Eine Sachbearbeiterin flößte ihm in kleinen Schlucken ihren ungemein beruhigenden „Winterschlaf“-Kräutertee, von dem sie sich jeden Morgen bei Dienstantritt gleich eine ganze Thermoskanne aufbrühte, ein. Ein Oberamtsrat fächelte Fritz mit wachsender Verzweiflung und den Paragrafen 87 bis 159 des oberösterreichischen Landesbeamtengesetzes Luft zu. Und ein stellvertretender Bezirkshauptmann versuchte fahrig, Neugebauers Puls zu ertasten, sah sich aber nicht zuletzt mangels einer Tasterfolgszulage außerstande, ihn auch zu finden.

Fritz öffnete langsam die Augen. Er sah all die besorgten, aber auch erwartungsvollen Gesichter rund um ihn herum und wusste: Heute hatte er Geschichte geschrieben. Er hatte Großes, ja Unerhörtes geleistet. Er war ein Held. Nie zuvor hatte es jemand gewagt, die geschlossenen Reihen der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst für eine derart riskante Unternehmung zu verlassen. Und schon gar nicht ein Mann, der Zweiter Nationalratspräsident war – ein Amt, das in Verbindung mit seinem Hauptberuf als oberster Beamtengewerkschafter nur der Realverfassung Unkundige als nur drittwichtigste Position im Staat ansehen konnten.

Es gab wohl Gerüchte, dass es vor ihm schon andere versucht hätten. Allerdings fand sich nichts darüber in den Akten. Keine Notiz, keine Fußnote, kein Protokoll. Falls es diese unerschrockenen Entdecker, die mitunter in Trinksprüchen oder in den Vereinsnamen mancher Hacklerpensionistenkegelrunden vorkamen, überhaupt gegeben haben sollte und sie darüber hinaus jemals von ihrer gefährlichen Mission zurückgekehrt sein sollten, so waren sie wahrscheinlich dem Wahnsinn oder dem an manchen Dienststellen ohnehin als quasi endemische Seuche wütenden Burn-out anheimgefallen – und damit der krankheitsbedingten Frühpension.

Fritz war jedenfalls der Erste, der leibhaftig berichten konnte, wie es dort, wo er gewesen war, denn wirklich aussah. Der dem Grauen einen Namen geben konnte. Denn Fritz war dorthin gegangen, wohin es einen bei Sinnen befindlichen Pragmatisierten an sich niemals treiben würde: hinaus. In den geheimnisumwitterten Dschungel, der gleich hinter den Amtsstuben begann. In die Welt.

„Meine Freunde“, hob Fritz mit schwacher Stimme an, „ich habe vieles gesehen da draußen. Und meine schlimmsten Befürchtungen sind übertroffen worden. Deshalb muss ich euch mitteilen: Ich habe viele schlechte Nachrichten für euch – und nur eine gute.“

Ein freigestellter Personalvertreter aus dem Montafon, der zu Neugebauers Füßen kauerte, jaulte auf wie ein von einem gestrichenen Planposten getroffener Hund. Fritz tätschelte ihm väterlich den Kopf und fuhr dann fort.

„Ja, meine Freunde, es ist fürwahr unheimlich da draußen. Ich habe neue Selbstständige getroffen, die auch nichts anderes tun als viele von euch. Aber stellt euch einmal vor: Die müssen sich selbst versichern. Und sie haben keine Kantine! Und ja, es ist wahr: Es gibt auch Arbeitslose in dieser …“, Fritz machte eine kleine Pause, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, „… in dieser Vorhölle!“

Zwei an niedrigem Blutdruck leidende Gemeindesekretärinnen kollabierten umstandslos. Und ganz hinten übergab sich ein Stadtgärtner. Fritz sprach mit merkbar gezügelter Emotion weiter. Er erzählte von prekär Beschäftigten, einem empörenden Mangel an Besoldungsrichtlinien, von Menschen, die tatsächlich gekündigt werden konnten, wenn ihre Firma sie nicht mehr brauchte, von lauter grässlichen Dingen, von denen sie alle zwar schon gehört hatten, aber sie nie so wirklich glauben hatten können. Wie denn auch?

Als Neugebauer fertig war, herrschte gespenstische Ruhe. Viele sahen betroffen zu Boden, andere rangen sichtbar nach Luft. Was würde nun mit ihnen passieren? Aus den hinteren Reihen rief ein besonders Wagemutiger: „Und die gute Nachricht? Was ist mit der? Gib uns Hoffnung, Fritz

Ja, die gute Nachricht. Fritz gab sich einen Ruck: „Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach all diesen entsetzlichen Sachen, die ich euch nicht ersparen konnte, ist es jetzt wirklich Zeit für die gute Nachricht. Sie lautet: Das geht uns alles zum Glück überhaupt nichts an!“

In der Sekunde brach ein ungeahnter Jubelsturm im Saal los. Einander wildfremde Oberoffiziale lagen sich in den Armen, Ärmelschoner und Büroklammern wurden in die Luft geworfen, und Fritz hatte Mühe, sich in der allgemeinen Feierlaune noch Gehör zu verschaffen.

„Wir klagen also gegen den ungeheuren Vertrauensverlust, den unsere zahlreichen vom jahrelangen Sitzen verschlissenen und vom täglichen Warten, bis es endlich 14 Uhr ist, zermürbten Mitstreiter erleiden würden, wenn die Hacklerpension ab 2014 überfallsartig erst mit 62 statt mit 60 Jahren möglich sein sollte. Weil: nicht mit uns!“

Fritz sah seine erleichterten Kollegen, die ihrer Freude freien Lauf ließen. Und er sah, dass es gut war.

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