Rainer Nikowitz: Jetzt! Oder doch nie?
Sehr verehrte Österreicher:innen und Österreicher:innen!
It’s 2022, Baby! Die Zeit ist reif. Reif für eine erste Frau im Staat. Und so, wie die Dinge liegen, kann das ja wohl nur ich sein! Äh … Kusch, Gusenbauer! Wer fragt denn dich?
An sich wären damit schon alle Argumente vorgebracht, die für mich sprechen, mehr braucht es heutzutage ja nicht mehr. Da haben wir zum Glück schon große Fortschritte im gesellschaftlichen Diskurs gemacht. Aber eben noch nicht genug, denn sonst gäbe es ja schon längst eine Bundeskanzlerinnenquote – und ich wäre Hausfrau am Ballhausplatz. Und nicht die Anführerin der Opposition, die es selbst angesichts einer moralisch total verkommenen und in Trümmern liegenden ÖVP immer noch schafft, bei der Kanzlerinnenfrage nicht Nummer eins zu sein. Aufgrund von persönlichen Beliebtheitswerten, die jenen von eitriger Angina kaum nachstehen.
Außerdem soll diese Rede ja eine grundsätzliche sein – und die dauern halt, das muss so sein. Auch wenn das Publikum nach spätestens 15 Minuten auf Durchzug schaltet, weil die Grundsätze dann vielleicht doch nicht so unfassbar spannend sind und ich darüber hinaus vor Kameras und Mikrofonen immer schon so natürlich und mitreißend gewirkt habe wie sonst maximal noch Siri. Aber da müssen Sie jetzt durch, schließlich geht es um Wichtiges, nämlich um mich.
„Ich sage nicht: Wählen Sie mich, ich bin das geringere Übel! Aber wenn Sie es deshalb tun, soll es mir auch recht sein.“
Lassen Sie mich darum gleich noch einmal auf diese empörenden Umfragen zurückkommen. In diesen wird ja der Eindruck erweckt, dass die Zustimmung zur SPÖ als Partei wesentlich höher ist als zu mir als Spitzenkandidatin. Und damit unterschwellig auch, dass die SPÖ unter Umständen ohne mich sogar noch viel besser dastünde. Das mag schon sein – umgekehrt gilt es aber mit Sicherheit nicht. Also müssen wir uns mit diesem reaktionären Gedanken auch nicht weiter befassen. Weiters schwebt auch immer noch dieses Abstimmungsergebnis vom letzten SPÖ-Parteitag im Raum. Sie erinnern sich vermutlich leider alle daran, ein Viertel der Delegierten hat mich damals nicht gewählt, etwas Ähnliches gab es in der ruhmreichen Geschichte der Sozialdemokratie noch nie. Daraus könnte man schließen, dass nicht einmal meine eigene Partei mich mag. Und es bloß keiner laut sagt, außer dem Doskozil. Wobei: Laut – und Doskozil? Höhö! Kleiner Scherz am Rande, nur, damit ich beweise, dass es gar nicht stimmt, was alle sagen – und ich also gar nicht in den Keller lachen gehe. Sondern in Wirklichkeit eh einen Mörder-Schmäh habe!
Jedenfalls: Dieses Ergebnis am Parteitag war auch nicht meine Schuld – sondern natürlich die der alten weißen Männer. Ja, man kann es nicht leugnen: Die gibt es leider auch in meiner Partei. Trotz aller Bemühungen, sie endlich irgendwo sicher zu verwahren, wo man sie nicht mehr hört und sieht. Aber das Patriarchat ist da sehr gefinkelt. Ständig kommen neue alte Männer hinzu, die sich jahrelang perfid als junge getarnt haben! Während es ja im Gegensatz dazu alte weiße Frauen praktisch nicht gibt. Die muss man immer erst mit viel Mühe sichtbar machen. Was natürlich auch eine der Kernaufgaben meiner zukünftigen Kanzlerinnenschaft sein wird.
Womit wir beim programmatischen Teil dieser, wie Sie sicher merken, jetzt schon historischen Rede angelangt wären. Ich stehe ja nicht nur für eine hochmoderne Gesellschaftspolitik, sondern habe auch sehr akzentuierte Vorstellungen für die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Und die lautet: mehr von allem für alle! Ich weiß, das ist ein bestechendes Konzept. Immer noch leiden breite Bevölkerungsschichten unter einem horrenden Mangel an Gratis- Vanilleeis und an Puderzucker, der von einem wohlmeinenden, starken Staat an der dafür geeigneten Stelle in den Körper eingebracht wird. Dafür stehe ich, denn wie sonst soll man als progressive Politikerin everybody’s darling werden?
Darüber hinaus bin ich als vermutlich Einzige voll gegen den Klimawandel und für den Weltfrieden. Zur Aufrechterhaltung des Letzteren ist es unbedingt nötig, dass Österreich weiterhin neutraler Trittbrettfahrer bleibt, der im Fall des Falles hoffentlich von seinen netten Nachbarn gratis mitverteidigt wird. Und der den ukrainischen Präsidenten Selenskyj nicht im Parlament reden lässt, weil alles andere ja nicht opportunistisch und feig wäre.
Aber am möglicherweise allerwichtigsten unter all diesen unschlagbaren Gründen, mich zu wählen, ist: Die ÖVP steht ja wohl unbestritten noch viel armseliger da als wir. Damit will ich jetzt natürlich nicht sagen, dass Sie mich nur wählen sollen, weil ich die Chefin des geringeren Übels bin. Aber, ganz ehrlich: Wenn Sie es deshalb tun, soll es mir auch recht sein. Der Weg ist nicht das Ziel. Das Ziel ist das Ziel. Ich bin bereit, diesem Ziel alles unterzuordnen. Und ich hoffe doch stark, dass Ihre Leidensfähigkeit dafür auch stark genug ausgeprägt ist.
Weil: Wer, wenn nicht ich? Gusenbauer!! Net scho wieder!