Rainer Nikowitz: Linksdrehend
Der Linke fühlte sich müde. Gerädert fast. Es war zwar nicht so, dass seine fundamentalen Überzeugungen ins Wanken geraten wären. Das konnte er sich nicht leisten. In einer Zeit, in der die Fratze der Reaktion ungeniert von allen Hauswänden hohnlachte, durften nicht auch noch die letzten Vernünftigen schwächeln. Aber eines musste der Linke einräumen: Er war verwirrt. Spätestens seit vorgestern.
Vorgestern war ihm bei der Sozialarbeit – also dem Posten auf Facebook – das bisher Undenkbare zugestoßen: Er war in einem NoWKR-Thread von einem anderen Poster als „Rechter“ beschimpft worden. Weil er gefunden hatte, dass angekündigte Krawalle bei der Demo eher PR für die Gegenseite waren. Deswegen hatte ihm irgend so ein Linksautonomer mit einem peinlichen Widerstandskämpferdecknamen ein Stigma auf seine bislang blütenweiße Social-Media-Weste gerotzt.
Der Linke war außer sich. Das ihm! Wie konnte jemand nur so verblendet sein? Dem Linken ging im Kampf gegen den Faschismus regelmäßig dermaßen das Geimpfte auf, dass man ganze Tage auf Twitter damit füllen konnte. Er nahm sogar schon im Schlaf am liebsten die Mahnwachenposition ein. Außerdem war er schon anti-heteronormativ gewesen, lange bevor er endlich das Wort aussprechen konnte. Bei der LSBTTIQ-Demo beim total phoben „Café Prückel“ hatte er sogar versucht, einen neben ihm stehenden Mann zu küssen – obwohl er gar nicht schwul war. Der andere übrigens auch nicht, wie sich umgehend herausstellte. Und jeder, der ihn kannte, hätte sofort bestätigt, dass der Antirassismus des Linken reinster Ausprägung gewesen war. Er hatte echt gegen niemanden was. Außer vielleicht gegen alte weiße Männer. Aber die liefen ja außer Konkurrenz.
Und er bekämpfte ja bitteschön auch den Stein des Anstoßes, den WKR-Ball, mit jedes Faser seines Herzens. Auch dem Linken war klar, dass in dem Moment, in dem dieser Ball nicht mehr stattfinden konnte, der Faschismus die finale Niederlage erlitten haben würde. Eine, von der er sich nie wieder erholen würde. Es war also echt eine Zumutung, dass sich einer wie der Linke urplötzlich als Rechter beschimpfen lassen musste. Auch im Lichte all der Ereignisse der letzten Zeit, die ihn so auf Trab gehalten hatten. Man war ja mit dem Ändern des Facebook-Profilfotos kaum nachgekommen. Terror, Pegida, Prückel, Raif, Syriza …
Syriza hatte ihn auch verwirrt. Also, am Anfang hatte sich der Linke natürlich auch in Erwartung des Wahlsieges auf Facebook mit Syriza solidarisch erklärt. Mit so einem Spruch, wie bei „Je suis Charlie“, aber halt in griechischer Schrift. (Nach zwei Tagen war der Linke dann zwar draufgekommen, dass er bedeutete: „Ouzo macht geil“. Aber so schlimm war das auch wieder nicht, es ging ja ums Symbol – wie eigentlich immer.) Dass er das noch erleben durfte! Wie der aus Athen heraufbrandende Antikapitalismus die ganzen Anzugträger in der EU zum Erzittern brachte! Wie er sie neckte: „Also, wie ist das jetzt? Gebt ihr mir euer Geld – oder soll ich lieber Putin fragen?“ Endlich einmal rannten die Leute keinem rechten Haider nach, sondern einem linken! Und das sogar über Tausende Kilometer Entfernung!
Na ja … Und dann geht dieser Tsipras, so fesch wie er ist und so charismatisch und so Robin Hood und alles, eine halbe Stunde nach der Wahl mit den Rechtspopulisten in eine Koalition. Das war schon unschön auch. Fremdenfeindlich waren die neuen Freunde. Und antisemitisch. Gut, andererseits machte das jetzt wiederum die Argumentation gegen die Islamophobie leichter. Weil angesichts der unerfreulichen, wie alle anderen natürlich auch auf rechten Generalverdacht ausgelegten Behauptungen, dass der steigende Antisemitismus in Europa irgendwas mit dem Islam zu tun hätte, hatte man sich eh schon lange fragen müssen: Wo waren die Rechtsradikalen, als man sie ein Mal brauchte? Also für antisemitische Übergriffe für die Statistik zum Beispiel? Das machten sie einem zu Fleiß! Aus niedrigsten islamophoben Beweggründen. Aber jetzt konnte man diese Frage ja zufriedenstellend beantworten: Die Rechtsradikalen waren in der griechischen Regierung.
Wobei, ehrlich gesagt: Dafür hätte der Linke jetzt nicht unbedingt tagelang „Ouzo macht geil“ in der virtuelle Welt trompetet, wenn er das vorher gewusst gehabt hätte. Und was diese Koalition wieder Arbeit gemacht hatte in der Sozialbase! Die musste man schließlich erst einmal kleinreden gegen die, die den Linken schon vorher als Syriza-Groupie verhöhnt hatten. Also die Rechten. Die Gottseidank in Österreich nicht an der Macht waren. Aber wir hatten ja auch keine Syriza. Leider. Und das war … wahnsinnig verwirrend. Und in dieser traurigen Zeit voll der Prüfungen musste sich der Linke auch noch als Rechter beschimpfen lassen. Dabei gab es doch in Wirklichkeit genau einen Menschen, der wusste, wann einer ein Rechter war: Den Linken. Und nachdem er sich das wieder vor Augen geführt hatte, ging es ihm gleich wieder viel besser.