Rainer Nikowitz: Monsieur 50.000 Volt
Vilimsky war sehr mit sich zufrieden. Endlich, endlich war er wieder wer. Er musste zugeben, dass ihn schon leichte Zweifel beschlichen hatten, ob das jemals wieder so sein würde. Wiewohl er normalerweise nicht zu Selbstzweifeln neigte, denn dazu hätte es ja der Fähigkeit zur Selbstreflexion bedurft. Und woher nehmen, wenn nicht stehlen?
Aber im aktuellen Fall hatte es sich so verhalten, dass seine letzten 15 minutes of fame schon wieder ein schönes Weilchen her gewesen waren – und das hatte ihm dann ausnahmsweise doch einmal zu denken gegeben. Wobei, eigentlich waren es ja mehr 15 Sekunden gewesen, ungefähr so lang hatte es ihn damals nämlich geschüttelt, als ihm der Taser 50.000 Volt in den gesunden Volkskörper gepumpt hatte. Für die Langzeitfolgen wiederum reichten 15 Minuten bei Weitem nicht aus, die würden ihn wohl für den Rest seines Lebens begleiten. Eines Lebens, das, wie schon allein dieser mutige und wie alle politischen Handlungen Vilimskys hochgradig intelligente Selbstversuch bewiesen hatte, einzig und allein dem Wohlergehen und vor allem der Sicherheit des kleinen Mannes gewidmet war. Schließlich war Vilimsky ja selbst ein kleiner Mann. Einen kleineren würde man kaum finden. Also hatte er sich frühzeitig angewöhnt, laut zu schreien, um nicht ständig übersehen zu werden. Eine zutiefst menschliche Reaktion. Wenigstens eine.
Leider hatte Vilimsky beileibe nicht immer die an sich hochverdienten Lorbeeren für diese seine politische Singulärkompetenz geerntet. Nur allzu oft schon hatten die Fake-News-Medien seine vorzeitigen Ergüsse achtlos übergangen. Oder sich gar ebenso grundlos wie bösartig über ihn lustig gemacht. Damit war jetzt aber Schluss. Endlich hatte es sich wieder einmal ausgezahlt, dass er sich immer treu geblieben war, denn endlich war ihm wieder einmal ein großer Auswurf gelungen! Und zwar punktgenau ins Gesicht der EU. Denn um nichts anderes ging es dabei. Wenn sogar ein grundvernünftiger, sympathischer und verantwortungsvoller Mensch wie Donald Trump die EU als Feind sah, konnte ein Bursch wie Vilimsky seinen Vorschlaghammer nicht einfach stecken lassen. Dieser Juncker war ihm eigentlich völlig wurscht. Und auch, ob der jetzt soff oder nicht. Viele Freunde von Vilimskys einem Freund soffen. Die Burschenschafter soffen, rituell sogar. Seine Wähler soffen zu geschätzten 50 Prozent – weil wie sollte das sonst möglich sein? Aber der angeblich wegen Ischias und Krämpfen torkelnde Kommissionspräsident war halt ein verführerisch leichtes Ziel gewesen, um das zu demonstrieren, was Vilimsky für Manieren hielt. Und nicht zuletzt: für Politik.
Das sollte überparteilich sein? Einfach Anstand einzufordern?
Außerdem konnte man ihm ischiasmäßig kein X für ein wie auch immer dieser andere Buchstabe schnell hieß vormachen. Immerhin hatte er Netdoktor studiert – in der Mindestzeit von acht Megabyte, also praktisch sub auspiciis praesidentis. Wenn er denn bloß einen Präsidenten gehabt hätte! Denn der Bello in der Hofburg war, wie Vilimsky als stets verfassungstreuer Law-and-Order-Fetischist leider anmerken musste, nicht seiner. Das wäre der andere gewesen. Wahlergebnisse waren für ideologische Tiefwurzler wie ihn klarerweise nur zu akzeptieren, wenn sie einem passten. Und dann hatte dieser senile Sandler auch noch die Stirn, Vilimskys unverzichtbare Wortmeldung als das zu bezeichnen, was sie wahrscheinlich für so ziemlich jeden anderen dreckigen Nicht-Facebook-Kunden von HC Strache war, nämlich „unflätig“. Das sollte überparteilich sein? Einfach Anstand einzufordern? Wo jeder wusste, welche Partei keinen hatte? Mit einem Sie-werden-sich-noch-wundern-was-alles-möglich-ist-Präsidenten, da hätte man sehen können, wie Überparteilichkeit geht, aber hallo! Und nicht auf einem Auge blind sein, sondern auf dem richtigen.
Mit dem Bello hatte Vilimsky vor der Juncker-Sache außerdem noch eine andere Rechnung offen gehabt, denn der Präsident der Schmerzen hatte ihn bei der Regierungsbildung als Innenminister verhindert. Und das bei seiner Taser-Erfahrung! Gut, Bello hatte gebüßt, denn schließlich hatte er dann Kickl als Ersatz serviert bekommen. Und nicht alles, was nicht mit freiem Auge erkennbar ist, ist ein Unterschied. Wiewohl Vilimsky einräumen musste, dass er als Innenminister die BVT-Geschichte wohl anders als sein kluger Freund gelöst hätte. Wahrscheinlich weniger elegant. Und rechtsstaatlich nicht so ungeheuer unbedenklich.
Aber, man musste nicht unbedingt Minister sein, um Spuren in den Herzen der Menschen zu hinterlassen. Oder, wie Vilimsky, vor allem in den Hirnen. Und wenn es sich bei diesen Spuren um solche aus Schleim handelte – umso besser! Das hatte ihm erst unlängst auch seine liebe Freundin Marine Le Pen gesagt. Bei einem Glas Champagner. Oder zwei Flaschen. Und Vilimsky hatte danach kein bisschen gewackelt. Er war ja nicht so ein Warmduscher wie dieser Juncker.