Rainer Nikowitz: No Shades Of Grey
Ja, ich gebe es zu. Auch ich habe dich nicht immer gut behandelt. Und dir zweifellos nicht die Wertschätzung entgegengebracht, die du verdient gehabt hättest. Es ist halt leider eines der ehernen Gesetze des Lebens: Dinge, an deren ununterbrochene Anwesenheit und klagloses Funktionieren man immer gewöhnt war, bemerkt man irgendwann einmal nicht mehr. Und erst, wenn diese bisherige Selbstverständlichkeit plötzlich Geschichte ist, fällt einem auf, was man daran eigentlich hatte.
Und jetzt ist es wahrscheinlich zu spät. Sicher, ich kann mich jetzt herstellen, mir das Hemd über der Brust zerreißen und in aller Öffentlichkeit lauthals eingestehen: Du fehlst mir! Aber wird dich das zurückbringen? Ich fürchte nicht.
Gut, eines muss man natürlich zugeben: Du hattest früher nicht unbedingt überall den besten Ruf. Es war kein Zufall, dass man gerade dich gerne als Adjektiv der Maus beistellte, um solcherart jemandem zu attestieren, wie unfassbar langweilig und uninteressant er denn nicht sei. Auch im Wetterbericht war deine Erwähnung stets geeignet, die Vorfreude auf den nächsten Tag nicht eben zu befeuern. Und wenn man dich erstmalig im eigenen Haupthaar vorfand, konnte sich das durchaus zu einer kleinen Depression auswachsen.
Und das Blöde ist: Sowohl im Wetterbericht als auch am Kopf wirst du ja weiterhin bleiben, du Farbe Grau du. Obwohl dich dort ehrlich gesagt keiner brauchen kann. Aber was machst du? Verabschiedest dich ausgerechnet auf dem einem Gebiet, auf dem dein Fehlen mit jedem Tag schmerzhafter spürbar wird: in der Flüchtlingsdebatte. Denn dort stehen einander ja ein ganz sattes, erzböses Schwarz und ein lichtdurchflutetes, strahlendes Weiß gegenüber. Und dazwischen ist – nichts. Oder vielmehr: darf nichts sein. Dieses ungeschriebene Gesetz haben Schwarz und Weiß interessanterweise gemeinsam beschlossen. Der absolut einzige Punkt, in dem sich „Ausländer raus!“-Schwarz und „Refugees welcome!“-Weiß einig sind, lautet: Keine Sau braucht Grau. Denn Grau ist ja schließlich, je nach Standort, bloß ein ausgewaschenes Schwarz – oder ein dreckiges Weiß.
Ich will dich zurück, Grau!
Für die dunkle Seite will jeder, der vor der Grenze steht, mit seinen drei Frauen und zwölf Kindern mindestens in unsere soziale Hängematte, so er nicht noch finsterere Absichten hat. Zum Frühstück verprügelt er seine Frau, begrapscht anschließend am Weg zur Auszahlung der Mindestsicherung alle anderen Frauen auf dem Gehsteig, und wenn ihm nachmittags neben seiner täglichen Arbeit an der islamischen Machtübernahme in Europa noch ein wenig Zeit zur Zerstreuung bleibt, gehen er und seine 64 besten Freunde ein paar Schwule klatschen. Kommt Schwarz einem Supermarkt drauf, dass er Halal-Fleisch verkauft, muss unbedingt ein Shitstorm her, denn wozu bitte gibt es sonst Facebook, wenn nicht zur Abweichler-Disziplinierung?
Sieht man dies nur in Nuancen anders – obwohl das eigentlich denkunmöglich sein sollte, denn mehr als eine Wahrheit gibt es ja nicht –, ist sofort klar, dass man ein naiver Westbahnhof-Fähnchenschwinger ist, der sich nach getaner Weltverbesserung rasch wieder in die gut geheizte Dachwohnung im 7. Wiener Bezirk zurückzieht, um sich von dort aus über die Sorgen und Nöte der einfachen Leute lustig zu machen.
Von der Seite des Lichtes her besehen, wäre wiederum bei jedem, der vor der Grenze steht, eigentlich eine Ad-hoc-Heiligsprechung wünschenswert, denn schließlich ist dieser edle Wilde ja nicht von hier. Das muss als Grund reichen. Außerdem ist er in ungefähr zehn von neun Fällen gerade der Neurochirurg, auf den wir dringend gewartet haben, wird sich zweifellos problemlos integrieren – soferne man ihm entgegenkommt, denn Integration ist schließlich allerweil noch eine Bringschuld derjenigen, die das ebenso unverschämte wie unverdiente Glück haben, schon da zu sein – und das mit dem Islam, na ja, mein Gott: Erstens bunte Folklore, und zweitens sind wir doch auch nicht besser! In der oberösterreichischen Landesregierung sitzt bitte schließlich auch keine Frau! Und wenn darob jemand einwenden sollte, dass eigentlich immer noch nicht alles, was noch mehr hinkt als Quasimodo, ein Vergleich sein sollte, muss man schon mitunter zu einem Shitstorm greifen, denn wozu bitte gibt es sonst Facebook, wenn nicht zur Abweichler-Disziplinierung? Sieht man dies nur in Nuancen anders – obwohl das eigentlich denkunmöglich sein sollte, denn mehr als eine Wahrheit gibt es ja nicht –, dann kann das nur daran liegen, dass man ein übler Rassist ist und gar nicht einmal klammheimlich darauf wartet, endlich ein paar Flüchtlinge bei der gemeinnützigen Arbeit mit dem Zahnbürstl auf dem Gehsteig beaufsichtigen zu können.
Ich will dich zurück, Grau! Ich weiß, wenn du zwischen dem schwarzen und dem weißen Schützengraben auftauchst, dann befetzen sie dich von beiden Seiten. Wer nicht rückhaltlos für sie ist, der ist eben leider eindeutig gegen sie. Aber: Wir schaffen das! Vielleicht.