Rainer Nikowitz: O du fröhliche
Wie ernst die Lage war, war schon allein daran zu erkennen, dass sich Sebastian nicht einmal mit seiner Lieblingssüßigkeit über sie hinwegtrösten konnte. Heuer schmeckte sogar die Windbäckerei nach bitteren Problemen. Und das konnte nicht nur damit zu tun haben, dass der Köstinger Elli vor dem Backen irrtümlich das Rezept in einen zufällig in der Gegend herumstehenden Aktenschredder gefallen war.
Wenn Sebastian so zurückdachte, dann fiel ihm tatsächlich nur ein einziger Heiliger Abend ein, der ähnlich …, nun ja, besinnlich wie der heutige dahergekommen war. Es musste 1992 gewesen sein und er sechs Jahre alt – wobei er schon damals seiner Zeit weit voraus gewesen war und sich also gefühlt hatte wie 46. Sebastian hatte sich damals beim Christkind diese täuschend echt aussehende Kaiserkrone aus hochwertigem Hongkong-Hartplastik bestellt, die er im Quelle-Katalog gleich hinter den Gesichtsmassagestäben entdeckt hatte. Aber bei der Bescherung war dann leider die große Ernüchterung gefolgt: Das genderfluide Flügelwesen hatte sie nämlich einfach nicht gebracht. Ohne ein Wort des Bedauerns oder gar der Entschuldigung.
Seit damals wusste Sebastian um die verheerende Wirkung, die Lieferkettenprobleme entfalten konnten. Er hatte dann beleidigt den Rest des Abends unter dem Gabentisch verbracht und unablässig gemurmelt: „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut.“ Und außerdem hatte er
beschlossen, das Christkind, diesen Versager, bei der erstbesten Gelegenheit, die sich ihm böte, durch einen Mann seines Vertrauens zu ersetzen. Denn schließlich hatte Basti schon damals gewusst: Die Zeit, in der er eine Krone tragen und somit in der Position sein würde, solche Entscheidungen nach Gutdünken zu treffen, die würde garantiert irgendwann kommen. Das war so sicher wie das Amen in „Damenklo“.
Nun sollte es ja Menschen geben, die „besinnlich“ sogar gut fanden. Zu dieser seltsamen Spezies gehörte Sebastian wahrlich nicht. Besinnung hatte ja immer irgendwie mit Nachdenken zu tun. Und beim Nachdenken fielen einem dann auch dauernd Sachen ein, bei denen man sich schon längst dafür entschieden hatte, sie nicht mehr wissen zu wollen. Basti zum Beispiel erinnerte sich jetzt gerade daran, dass er eine ganz schön lange Zeit hindurch und für ihn selbst vollkommen glaubhaft vergessen hatte, jemals einen Mann namens Thomas Schmid gekannt zu haben. Geschweige denn, mit ihm näher zu tun gehabt oder gar Mittelschüler-Chats mit ihm abgehalten zu haben. Oder auch, sich damals, unmittelbar nach Weihnachten 1992, mit ihm über die jeweilige Geschenklage ausgetauscht und dabei erfahren zu haben, dass Thomas die von ihm gewünschte Rick-Astley-CD sehr wohl bekommen hatte. Eine Tatsache, die Sebastian mit einem leicht angesäuerten „Kriegst eh alles, was du willst“ quittiert hatte.
Ähnliches war mittlerweile natürlich undenkbar, aus Gründen. Spätestens, seit sich der mittlerweile ungläubige Thomas seinerseits vor Gericht an Sachen erinnert hatte, die Sebastian aktiv entfallen waren. Und die jetzt leider schwer auf diesem Weihnachtsfest lasteten. Sebastian durfte sich nicht einmal mehr mit anderen Promis telegen ans „Licht ins Dunkel“-Telefon setzen, weil man drastische Spendeneinbrüche befürchtete. Der Fischhändler seines früheren Vertrauens hatte ihm statt des traditionellen Karpfens mit sardonischem Lächeln eine, wie sich gerade im Backrohr herausstellte, olfaktorisch keineswegs unbedenkliche Brachse angedreht, die wohl an Altersschwäche gestorben war. Und wenn der zerrupfte Weihnachtsbaum, dessen melancholischer Gesichtsausdruck Sebastian ein wenig an seinen großen Förderer Michael Spindelegger erinnerte, tatsächlich eine 1A-Nordmanntanne war – dann war Sebastian Peter Thiel.
Der Peter. Wenn Sebastian wenigstens bei ihm Weihnachten verbringen hätte können, in Neuseeland, weit weg von dem ganzen unwürdigen Mist hier. Aber leider war sein demokratisch gefestigter Milliardärsfreund mit seinem Doomsday-Refugium, in das er sich dereinst beim Totalzusammenbruch des Systems zurückziehen würde, noch nicht fertig. Dabei hätte Sebastian an sich schon der Zusammenbruch seines eigenen Systems gereicht, um sich in einen atom- und vor allem nachbarsicheren Bunker mit ausgedehntem Wellnessbereich, Kinosaal und Tennisplatz zu setzen und den Herrgott draußen einen Gutmenschen sein zu lassen. Die Leute würden dann schon sehen, was sie davon hatten, ihn so nachhaltig zu vergrämen. Selber würde er sich so eine praktische Bleibe aber leider nie leisten können. Es wurde ja sogar schon eng mit dem Chalet in Aspen, jetzt, da ihn der Benko René nicht mehr bezahlen konnte. Was klarerweise auch zu diesen uferlos freudigen Weihnachten beitrug.
Sebastian biss mürrisch in ein Windringerl. Es schmeckte immer noch nach Seife. Vielleicht lief es ja nächstes Jahr wieder besser. Aber vielleicht auch nicht. Denn nach dem Prozess war für ihn ja dummerweise: vor dem Prozess.