Rainer Nikowitz: Ostblock
Es wehte ein kalter Wind durch Pannonien. Trotz des Frühlings zog er eisig durch die Ebene. Sein Heulen hörte sich an wie ein fernes Rudel Wölfe.
An sich sollten nach den Berechnungen, die Hans Peter Doskozil bei den Rundflügen auf seinem fliegenden Seuchenteppich genau in seiner Daumen- und Pi-Gegend vorhergespürt hatte, die für diese Jahreszeit an Gestaden des Neusiedler Sees typischen subtropischen Temperaturen jetzt gerade dem Virus den Garaus machen – und er könnte dann das Burgenland endgültig zur völlig corona-freien Zone erklären. Nicht mit einem grünen Pass, sondern mit einem blaufränkischfarbenen. Aber stattdessen saß er einsam auf dem höchsten aller Gipfel – also jenem der unumschränkten Macht in Eisenstadt – und schlug sich ob der Kälte, die ihm aus Wien entgegenbrandete, und grimmig den Mantelkragen hoch. Rund um seinen Thron stand der Raureif auf den Frühlingsblüten, dick wie die Haut, die man sich als ewig Unverstandener zulegen musste.
Hans Peter war allein. Was lachhaft war, wenn man bedachte, dass er der einzige Rote war, der eine absolute Mehrheit hatte. Aber jetzt gab es da auf der einen Seite die Bundespartei – und dann es gab ihn. Zwei Universen. Und nur in der nicht nur in diesem Fall unmaßgeblichen Sicht der Bundespartei waren diese beiden nicht gleich groß.
Es brauchte aber wirklich keiner glauben, dass ihm das Alleinsein etwas ausmachte. Ihm doch nicht! Sicher, einerseits kam ihm zugute, dass man als Burgenländer ohnehin mehr als manch anderer gewohnt war, öfter allein zu sein. Da gab es ja gar nicht so viele Leute, dass man da immer gleich zwangsläufig wen treffen musste. Seit Corona überhaupt. Also …, nicht, weil da jetzt so viele gestorben wären, das ist nicht so gemeint. Durch das weitsichtige Krisenmanagement des Landeshauptmannes, dessen zentraler Punkt es von Anfang an war, sein Bundesland geschickt in einer vertretbaren Entfernung zu Wiener Intensivstationen zu verorten, gab es da ja keine Probleme. Sondern weil die paar Leute, die einen da zum Landeshauptmann wählten, auch noch alle zu Hause waren.
Also war es Hans Peter auch gewöhnt, einsame Entscheidungen zu treffen. Nicht etwa, weil er nicht teamfähig oder gar dem mittelleichten Cäsarenwahn zugewandt gewesen wäre, wie jetzt natürlich kolportiert wurde. Sondern weil halt einfach oft keiner da war, den man fragen hätte können. Und in der Prärie, in der selbst Zwerge lange Schatten schlugen, konnten Punkte am Horizont auch einfach nur weit entfernte Windräder sein. Oder Wegweiser zur nächsten Therme. Wenn man auf die wartete beim Entscheiden!
Außerdem war gerade die Entscheidung, sich von einem Partner zu entlieben und fortan noch eigenere Wege zu gehen, weil man endgültig einsehen hatte müssen, dass die uferlose, die bedingungslose Liebe, die man selbst immer und immer wieder auch öffentlich gezeigt hatte, in nicht annähernd gleichem Maß erwidert wurde, nun wirklich eine höchstpersönliche. Die konnte man ohnehin nur allein treffen.
Wenngleich die Auswirkungen natürlich darüber hinaus gingen, das war ja klar bei einem Mann seiner Bedeutung. Natürlich zog sein Leiden noch mehr Leiden nach sich, bei anderen – was seinen Schmerz nur noch verstärkte. Bei der Basis nämlich, die ihm zwar noch tränenverschleierten Auges mit einer zusammengerollten „Krone“ nachwinken, sich dann aber irgendwann betrübt umdrehen und endgültig Türkis oder gar Blau zuwenden würde. Das war nämlich die Wahrheit! Und nicht, wie manche behaupteten, dass die Delegierten am bald anstehenden Bundesparteitag noch viel trauriger wären, weil sie nun nicht mehr wussten, wen sie bei der Wahl zum stellvertretenden Vorsitzenden von der Liste streichen sollten.
Sie würden schon noch draufkommen, wem dieser jetzt so lautstark vollzogene stille Bruch mehr schaden würde. Ihm vielleicht? Lächerlich! Ihm, der er niemals wie ein einst bis fast an die Spitze der Republik gespülter Vertreter eines anderen Randstaates geäußert hätte: „The world in Burgenland is too small for me!“? Und wenn es hundert Mal stimmte! Woran natürlich kein vernünftiger Mensch zweifelte. Oder ob es da nicht doch der Partei mehr schadete, die jetzt in Pandemiezeiten auf eine Führung bestehend aus einer Ärztin und dem Wiener Bürgermeister zurückgeworfen war. Und Letzterer hatte bekanntlich keine absolute Mehrheit, war also im Vergleich zu Hans Peter relativ unwichtig. Von Ersterer ganz zu schweigen. Die war von einer Absoluten ähnlich weit entfernt wie Norbert Hofer. Wobei der sie zugegebenermaßen nicht einmal in der eigenen Fraktion hatte.
Andererseits: Hätte Päm die denn?
Hans Peter blies seinen heißen Atem in die Kälte, ein geheimnisvoller Nebel umwaberte ihn. Er hatte da so eine Ahnung. Vielleicht war sein Exil ja gar nicht von Dauer. Er konnte warten. Und die Kälte, die hielt ihn nur frisch.