Rainer Nikowitz: Der Wahllose

Rainer Nikowitz: Der Wahllose

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Als Reinhold Lopatka an diesem strahlenden Augustmorgen das Haus verließ, spürte er instinktiv, dass dieser Tag der Tag der ÖVP werden würde. Gut, soweit es Reinhold betraf, war ja an sich jeder Tag der Tag der ÖVP – wenngleich das der doch mitunter etwas wankelmütige Wähler in all seiner demokratischen Unreife nicht immer entsprechend zu würdigen wusste. So musste es doch etwa jedem denkenden Menschen klar sein, dass auch das prächtige Sommerwetter, wie praktisch alles Gute in unserem schönen Land, auf eine Initiative der ÖVP zurückzuführen war. Aber schlug sich das in den Umfragen nieder? Brach der Mailserver des schwarzen Parlamentsklubs unter einer Flut von Dankesbezeugungen zusammen? Riefen ihm Passantinnen in kecken Hotpants und keine Fragen offen lassenden Spaghetti-Tops auf der Straße nach: „Reinhold, ich will eine Koalition mit dir?“

Nichts von alledem. Dankbarkeit war nun einmal keine politische Kategorie, das wusste Reinhold selbstverständlich. Auch wenn es sich selbstredend so gehörte. Aber das Gefühl für das Gute und Richtige, das feine Gespür dafür, dass man den Denkern und Lenkern unseres wie geschmiert funktionierenden Staates – und niemand, der bezweifeln würde, dass gerade Reinhold der Hervorragendsten einer war – mit Demut und dem Kreuz an der richtigen Stelle zu begegnen hatte, war ja leider in den Jahrzehnten sozialistischer Umerziehung völlig verloren gegangen.

„Entschuldigung, können Sie mir bitte sagen, wie spät es ist?“, richtete plötzlich ein peinlich nach Plebs riechender Untertan das Wort an den Mann, der wie kein anderer wusste, was es gegen Politikverdrossenheit zu unternehmen galt. Reinhold ließ seinen Blick zielgenau über den schwitzenden Minderleister hinweg und hinauf zur gleißenden Sonne schweifen, ehe er mit all der Autorität, die ihm sein Amt und seine von Natur aus starke Persönlichkeit verliehen, antwortete: „23.15 Uhr.“

Sein Gegenüber wirkte etwas irritiert. Aber an solche Reaktionen war einer wie Reinhold, für den Kühnheit im Denken und Handeln so alltäglich war wie für andere die leider ohne zeitgemäße Interpretation durchgeführte ­Befolgung des siebenten Gebotes, gewöhnt.

Wenig später – Reinhold hatte in der Zwischenzeit ­einem Pulk italienischer Touristen, die den Stephansdom suchten, den Weg zum Donauturm gewiesen und danach ­einem Mann mit Blinden-Armbinde vertrauenserweckend zugeflüstert „Jetzt!“, als die Fußgängerampel am Ring auf Rot sprang – betrat der Nachfahre Macchiavellis, der sich in ­jeder Westentasche über das verschwenderische Platz­angebot gewundert hätte, seinen Arbeitsplatz. Vor ihm huschten einige ehemalige Stronach-Söldner durch die Parlamentsgänge. Sie gaben einander Tipps für das kreative Ausfüllen von Spesenabrechnungen oder unterhielten sich über die neuesten Diäten, die garantiert zu keiner unerwünschten Abnahme von Vermögen führten.

Reinhold lächelte seinen Neuzugängen gerührt zu. Es hatte ihn schon sehr gekränkt, dass man ihm rund um den Übertritt von nunmehr bereits vier ehemaligen Frankieboys und -girls zur ÖVP dermaßen haltlose Vorwürfe gemacht hatte. Vor allem, dass man ihm vorhielt, noch am Vorabend des Überlaufs von Nachbaur und Ertlschweiger kalt lächelnd die Unwahrheit gesagt zu haben, schmerzte einen gläubigen Christenmenschen wie ihn ungeheuer. Wo er doch wirklich rein gar nichts gewusst hatte! Erst eine halbe Stunde vor der gemeinsamen Pressekonferenz hatten ihn die beiden telefonisch bei einem Essen mit seinem Onkel vom Mars erreicht – Onkel X3331f machte nämlich die besten Brontosaurier-Steaks von ganz Atlantis – und vor vollendete Tatsachen gestellt! Und er war jederzeit bereit, das mit der Hand auf dem Koalitionsabkommen zu beschwören!

Aber auch, dass ihm unterstellt wurde, er arbeite an ­einer schwarz-blauen Mehrheit im Parlament, die sich praktischerweise ohne vorherige Wahlen herstellen ließ, war wirklich eine Sauerei. Natürlich, Reinhold hatte stets die Ansicht vertreten, dass durch Wahlen selten etwas besser wurde. Und ja, natürlich wäre der Zeitpunkt für eine schwarz-blaue Koalition jetzt gar nicht so übel, wo doch jedem klar sein musste, dass sich nach Wahlen schwarz-blau nicht mehr ausgehen würde – sondern nur mehr blau-schwarz. Aber wenn man tatsächlich in diese Richtung dachte, dann natürlich nur, um den Wähler einmal mehr vor sich selbst und seiner himmelschreienden Fehleranfälligkeit zu beschützen. Ehrlich! So wahr Moby Dick eine Kampfgelse war!

Aus diesen – wenn schon nicht staats- so doch jedenfalls parteitragenden – Gründen würde Reinhold heute natürlich wieder nicht versuchen, noch die drei charakterstarken Stronach-Mandatare, die er brauchte, in das schwarze Loch seines Clubs der großen Lichter zu ziehen. Und wenn doch, dann würde er es selbstverständlich nie zugeben. Er war nämlich so was von bei Sinnen.

Rainer   Nikowitz

Rainer Nikowitz