Rainer Nikowitz: Schmetterlingseffekt
Man könnte schon verzweifeln am Zustand der Welt. Menschenrechte werden weniger, Autoritarismus wird mehr. Der Klimawandel ist längst voll im Gang, das Platzen der nächsten Blase erledigt die Weltwirtschaft vielleicht final, wer weiß das schon. Es gäbe jedenfalls genügend Gründe für ungebremsten Fatalismus. Aber es wird Sie, aufgeweckte Leserin, natürlich nicht überraschen, dass gerade diese Kolumne einer diametral anderen Sichtweise zuneigt, nämlich jener des geradezu schrankenlosen Optimismus. Sicher, man kann schon kurz einmal frustriert sein, wenn beim letzten Gipfeltreffen wieder nichts rausgekommen ist. Aber was zählen schon Gipfeltreffen? Es sind doch in Wahrheit die kleinen Dinge, die den Weltenlauf verändern. Und wir alle können etwas tun! Beim Klimawandel zum Beispiel. Natürlich kann nicht jeder gleich Greta Thunberg sein, die ihre Emissionen auf Katamaranen unter Kontrolle hält. Aber sehr wohl Herbert Huberbauer, der einmal in der Woche sein Auto stehen lässt und nicht damit zum Wirten fährt – sondern sich die Pizza liefern lässt! Jede Kleinigkeit zählt und trägt sogar die Chance in sich, schmetterlingseffektmäßig so richtig für Furore zu sorgen.
„Also gut. Sie sind aufgenommen, Herr Hitler!“
Bedenken Sie doch nur einmal, was passiert wäre, wenn es zum Beispiel Hildegard von Bingen geschafft hätte, Napoleon Bonapartes chronisches Magenweh mit Käsepappeltee zu lindern. Vielleicht wäre er dann europaweit viel umgänglicher gewesen. Jetzt werden Sie vielleicht einwenden, dass diese Chance sehr gering war, schon allein, weil doch gute 700 Jahre zwischen der Hilde und dem Korsen lagen. Deshalb noch ein und diesmal kaum zu widerlegendes Beispiel: Wenn damals dieser eine Professor an der Wiener Kunstakademie kein Kultursnob, sondern einfach nur ein netter Mensch gewesen wäre, seinem Herzen einen Stoß gegeben und gesagt hätte: „Also gut. Sie sind aufgenommen, Herr Hitler!“ – Na?
Nun hat dieses Magazin seinen Menschen des Jahres schon vor drei Wochen gekürt, aber man sollte dennoch nicht ganz auf Antonia Veracruz aus Santa Gertrudis de Fruitera vergessen. Eine stille Heldin, die nicht im Rampenlicht steht, obwohl sie das zweifellos verdienen würde. Denn ohne Antonia würde sich dieser Jahresrückblick über weite Strecken ganz anders lesen, tat sie doch an einem Tag im Juli 2017, der für die österreichische Innenpolitik erst knapp zwei Jahre später so richtig bedeutsam werden sollte, Folgendes: Sie parkte falsch. An sich ein Akt eher milderer Subversivität, der jedoch einiges nach sich ziehen sollte. Antonia parkte eigentlich auch nur deswegen falsch, weil sie sehr in Eile war, hatte sie doch ihrem Juan für den Abend Schweinefüße in Aussicht gestellt. Und der Fleischhauer stand knapp davor, seine nachmittägliche Siesta anzutreten. Außerdem musste er die Ware erst in Form hacken, da war der Juan heikel. Und das dauerte eben seine Zeit.
Pornos und Trump-Tweets
Als Antonia endlich wieder rauskam, fand sie eine wütende Elena Ramos vor, die schon vor fünf Minuten hätte wegfahren müssen, aber nicht konnte, weil Antonia sie blockiert hatte. Ohne diese fünf Minuten Verzögerung hätte Elena nicht an dieser Engstelle hinter dem LKW von Ramon Sanchez warten müssen, der seinem Chef in der Früh noch eindringlich gesagt hatte, dass der Reifen nicht mehr lang halten würde. Und dann wäre sie auch nicht ewig vor dem geschlossenen Schranken auf der Straße nach Santa Eularia des Riu gestanden, den der Schrankenwärter immer extra lang zu ließ, weil er in der Zwischenzeit am Handy Pornos schaute oder Trump-Tweets las – meistens beides gleichzeitig. Und dann wäre sie auch weiters nicht um 20 Minuten zu spät zu ihrer Nagelstylistin Maria Gonzalez gekommen, die sie an sich bei so einer Verspätung eh nicht mehr angenommen hätte, aber Elena war erstens Stammkundin und litt zweitens wirklich sehr unter ihrem Nagelspliss. Der war noch dazu an diesem Tag ärger als sonst, Maria brauchte länger – und sah sich schließlich gezwungen, ihre Babysitterin Conchita Casillas anzurufen, um ihr zu sagen, dass sie länger bleiben müsse. Jetzt hätte die gute Conchita aber schon längst zum nächsten Bankert aufbrechen müssen, konnte aber natürlich einen Vierjährigen mit ADHS und Handysucht nicht einfach allein lassen. Also musste sie ihrerseits einen Anruf tätigen und ihrer wartenden Kundin Adriana Cristobal mitteilen, dass sich das leider nicht ausgehen werde.
Was für ein Vorbild!
Und jetzt manifestierte sich die Katastrophe endgültig. Denn somit musste Adriana, eine toughe, freie Unternehmerin, eine Tarotkartenlegerin, wie es nicht viele gab, schweren Herzens ihren lange vereinbarten Termin absagen, bei dem der Auftraggeber gehofft hatte, sachdienliche Hinweise zum genauen Datum der Apokalypse zu bekommen, um vorher noch genügend Gold kaufen zu können.
Und darum hatte HC Strache dann in seiner Nachmittagsplanung auf Ibiza dieses Loch. Er sagte zu Johann Gudenus: „Also gut. Dann fahren wir halt in Gottes Namen zu deiner Russin.“
Antonia Veracruz – was für ein Vorbild!