Rainer Nikowitz: Stechschritt
Drei Uhr früh. Bisher war die Nacht an der Front ruhig gewesen. Und obwohl Ruhe an sich das Letzte war, das einer wie Feldmarschall Kickl normalerweise brauchen konnte, war er dieses eine Mal gar nicht so unglücklich darüber. Seine Leute waren nicht wie er. Die brauchten eine Pause. Das brave Bollwerk der Verteidiger, dieses ebenso ungeheuer tapfere wie bewundernswert gehorsame Menschenmaterial, das hier im Freistaat der ungebrochenen Ungeimpften unter seinem Kommando die Grenze sicherte, sollte auch einmal durchatmen können. Herbert hatte seine Runen-Schamanen an der rechten Flanke sogar extra angewiesen, die Befestigungsanlagen auch noch mit einem handelsüblichen Abwehrkraftzauber zu verstärken, damit es auch ruhig blieb. Und der Burggraben wurde jetzt als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme sowieso aus dem Granderblütenbach gespeist. Sie waren heute so sicher, wie man nur sein konnte. Da kam keiner rein.
Und auch schon länger keiner mehr raus.
Vor zwei Wochen hatte es der bisher Letzte probiert. Aber auch der hatte es, wie die meisten vor ihm, nicht geschafft. Seit die Stacheldrahtrollen an der Demarkationslinie die Form von Spike-Proteinen hatten, endete das ja fast immer unschön. Am Anfang, als manche noch gedacht hatten, strenge Grenzkontrollen, an denen ohne Pardon keiner mit Grünem Pass durchkam, würden vielleicht reichen, um das aggressive Unterdrückerregime im Zaum zu halten, da hatten sie ja noch viel mehr Leute verloren. Vor allem an die Impflotterie. Diese tödliche Falle! Tonnenweise hatte der Feind damals Flugblätter hinter den Linien über ihnen abgeworfen. Und dabei perfide das Geheimdienstwissen ausgenützt, dass diese ja auf eine Masse von besonders kritischen Medienkonsumenten treffen würden. Menschen also, die genau wussten, was in den Mainstreammedien für Lügen drinstanden – und genau deshalb natürlich eine Schwäche für unabhängige Informationen hatten, die mitunter einfach so vom Himmel fielen. Wie hinterhältig man sie getäuscht hatte, mit welchen unglaublichen Methoden des faschistischen Unterdrückungssystems da wieder einmal gearbeitet worden war – das hatten manche sicherlich leider zu spät erkannt.
Und dann waren sie dagestanden. Mit drei Stichen. Und einem 500-Euro-Gutschein für den Bipa oder was. Geimpft und entehrt.
Herbert zog die Mundwinkel nach unten und schüttelte düster den Kopf, bis sein Dreizack wackelte. Ja, solche unfassbaren Dinge passierten eben, wenn man das unglaubliche Pech hatte, in die schlimmste, die dunkelste aller Zeiten hineingeboren, nein, hineingespuckt worden zu sein! Von einem grausamen Schicksal hineingespuckt in eine Epoche von Wahnsinn, Unterdrückung – und Folter! Manchmal sogar mit Nadeln! Verdammt dazu, in der übelsten Diktatur leben zu müssen, unter deren Joch die Menschheit jemals zu leiden hatte! (Da musste man nur ein bisschen im Internet nachlesen, um zu wissen, dass das so war. Niemandem war es in der Geschichte jemals schlechter gegangen. Jawohl.)
Seit die Grenze ordentlich befestigt war, hatte aber wenigstens das mit den Überläufern zum Glück stark nachgelassen. Seit Herbert gesagt hatte: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.“ Wie sonst sollte man sich denn auch gegen diesen erbarmungslosen Mehrfrontenkrieg des Regimes wehren, gegen diese perfide, selbst in der modernen Kriegsführung an Hinterlist beispiellosen Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche, mit der man Herberts Leute mürbe zu machen suchte? Man konnte sich hier im Freistaat natürlich darum bemühen, die Moral der kämpfenden Truppe hochzuhalten. Und das tat man bitteschön auch nach Kräften.
Erst vorgestern hatte es an der Front einen umjubelten Auftritt von Nina Proll und Roland Düringer gegeben, mit einem Potpourri der besten Szenen aus „Ein seltsames Paar“. Vor einiger Zeit hatten sie sogar ein besonders motivierendes Highlight gehabt: Novak Djoković hatte vorbeigeschaut! Ja! Seit der bei eigentlich keinem Turnier mehr antreten durfte, hatte er ja gleich viel mehr Zeit zur Selbstverwirklichung. Da sah man wieder einmal, wozu das gut war. Direkt an der Frontlinie hatte der Novak einige Bälle mit Dagmar Belakowitsch gespielt, völlig unbeeindruckt von den Stalinorgeln, die von drüben auf ihn gerichtet gewesen waren, in jedem Rohr eine Spritze, bedrohlich, todbringend. Und Kickl selbst hatte eine in zähem Guerillakampf eroberte Gurgelbox kurz entschlossen zum Schiedsrichterstuhl umfunktioniert – und die Partie ebenso grimmig wie launig überwacht und zum Gaudium aller auch gleich kommentiert.
Aber das allein würde zur Stärkung der Moral der Truppe nicht reichen, das war Feldmarschall Kickl bewusst. Überhaupt musste der ganze Kampf, gegen alles nämlich, generell langsam auf neue Ebenen geführt werden. Auf ganz andere. Darum war es ja schließlich immer gegangen. Vielleicht nicht in dieser Nacht. Aber sonst: von Anfang an.