Rainer Nikowitz: Tischsitten
Wenn es dieser Tage etwas gab, das der Kanzler noch zärtlicher betrachtete als sein Spiegelbild, dann war es sein runder Tisch. Wann immer ihm eine kleine Pause im umsichtigen Lenken des Staates zum Wohle der ÖVP – und somit also unbestreitbar zum Wohle aller – gegönnt war, ging er einen Sprung ins Nebenzimmer. Und da stand er. Groß, wuchtig, dunkel und eben rund. Ein Möbel wie eine Anklage. Jeder Unbotmäßige, der an diesem Tisch zum Rapport anzutreten hatte, musste auf den ersten Blick wissen: Mildernde Umstände waren gestern.
Und wo bitteschön kämen wir denn hin, wenn ein Kanzler dort nicht hinzitieren konnte, wen er wollte? Also selbstverständlich auch die Korruptionsstaatsanwaltschaft, wenn die sich erdreistete, gegen Türkise – also schon per Naturrecht Sakrosankte – zu ermitteln. Und wenn das schon nicht für jeden x-beliebigen Kanzler galt, dann doch sicherlich für DEN Kanzler. Den mit der absoluten Mehrheit. Zumindest mit der von ihm selbst deutlich verspürten. Dieses Land gehörte jetzt endlich wieder, wie vom Himmelvater ja an sich immer schon vorgesehen, der ÖVP. Und wenn es um die Verteidigung des Privateigentums ging und um die Freiheit mit ebendiesem Eigentum tun und lassen zu können, was einem auch immer beliebte, verstand die bekanntlich keinen Spaß. Wobei eines natürlich auch einmal gesagt werden musste: Die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz waren für eine funktionierende Demokratie essenziell. Das hatte der Kanzler selbst erst unlängst gesagt. Ein Mal. Und damit war es aber auch schon wieder genug. Weil der Kanzler ja um seine beinahe hypnotische Überzeugungskraft wusste. Und bei mehrmaliger Wiederholung würde er diesen Topfen am Ende vielleicht noch selber glauben! Und Unabhängigkeit, mein Gott. Eh. Die war ja an sich gut und schön. Aber doch um Himmels willen nicht Unabhängigkeit von ihm! Warum sollte, was in Vorzeigedemokratien wie Ungarn oder Polen klaglos funktionierte, für Österreich nicht gelten dürfen? Justitia war ja schließlich, wie jedermann wusste, leider blind wie ein Grottenolm. Also war es quasi ein Akt christlicher Nächstenliebe – auf die die türkisen Neo-Cons ja ohnehin durchgängig spezialisiert waren –, wenn man ihr ein wenig unter die Arme griff. Aber es war halt wieder einmal typisch: Wenn jemand eine ängstliche alte Dame über die Straße führte, wurde er als sensibler und galanter Menschenfreund gefeiert. Aber wenn der Kanzler dasselbe mit Justitia zu tun gedachte, wurde er dafür von den üblichen Verdächtigen kritisiert. Aber daran hatte sich der Kanzler leider schon längst gewöhnt. Die Welt war nun einmal nicht gerecht, auch und vor allem nicht, wenn es um die angemessene Bejubelung türkiser Geniestreiche ging. Darum arbeitete die ÖVP ja auch sehr hart daran, vor allem die Medien bei der richtigen Einordnung manchmal doch sehr komplexer Sachverhalte sanft anzuleiten. Die hatten das mindestens genauso nötig wie die Justiz.
Leicht hinderlich war allerdings noch, dass der grenzenlos großzügige Kanzler in den Regierungsverhandlungen das Justizministerium seinem Koalitionspartner, dessen Name ihm gerade wieder einmal entfallen war, überlassen hatte.
Der Kanzler strich gedankenverloren über das dunkle Holz seines höchstpersönlichen Richtertisches. Dann ballte er seine Hand zusammen und schlug mit der Faust hart und ungemein führungsqualitätsvoll auf die Platte. Genau so würde er mit diesen roten Socken verfahren. Denn nichts anderes waren die doch! Gott, wie listig er das – nach dem ersten kleinen, hintergründigen Slip of the Tongue – formuliert hatte: „Es gibt immer wieder im öffentlichen Dienst politische Parteien, die versuchen, Personen, die ihnen nahestehen, in Führungsfunktionen zu bringen. Das soll in der österreichischen Verwaltung immer wieder mal vorgekommen sein.“ Und die einzige Partei, die da nicht mitmachte, war ja bekanntlich die ÖVP. Man konnte schließlich tagtäglich beobachten, wie vehement sich die Türkisen versteckten, wenn es darum ging, einflussreiche Posten zu besetzen. Das fiel ihnen jetzt natürlich auf den Kopf. Kein türkiser Staatsanwalt hätte einfach so in der Gegend herumermittelt, ohne Rücksicht auf Verluste. Türkise Ansehensverluste nämlich. Wenn nicht gar Schlimmeres – also Stimmenverluste! Das hatte man davon, wenn man so durch und durch ehrlich und grundanständig war, wie der Kanzlerwahlverein. Aber jetzt würde sich das ohnehin bald bessern, selbst dem gutmütigsten Alleinherrscher riss irgendwann einmal der Geduldsfaden.
Leicht hinderlich war allerdings noch, dass der grenzenlos großzügige Kanzler in den Regierungsverhandlungen das Justizministerium seinem Koalitionspartner, dessen Name ihm gerade wieder einmal entfallen war, überlassen hatte. Andererseits hatten die … Dings bislang entgegen früheren Gewohnheiten erstaunlich wenig Hang zur Insubordination gezeigt. Wenn das das Beste war, das sie aus ihrer Welt beizusteuern hatten, konnte man eigentlich ganz zufrieden sein. Hoffentlich würde das noch sehr lange so bleiben, dachte der Kanzler. Und klopfte aufs Holz.