Georg Hoffmann-Ostenhof

Revolution und Ignoranz

Revolution und Ignoranz

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Noch vor wenigen Wochen hätte kaum jemand vorausgesagt, was sich nun im Morgenland abspielt. Aber genau das ist das am meisten Überraschende: War es nicht klar, dass auch im arabischen Raum der Zeitpunkt naht, an dem die Leute „Es reicht!“ rufen, für Freiheit kämpfen und ihre Unterdrücker zum Teufel jagen wollen? Man hätte es wissen können.

Schließlich hat die Welt im vergangenen Vierteljahrhundert ein veritables Massensterben der Diktatoren erlebt. Eine gewaltige Demokratisierungswelle hat den gesamten Globus erfasst. In Lateinamerika mussten die Putschgeneräle das Feld räumen. Russland und in der Folge ganz Osteuropa entledigten sich der Politbüros, vertrieben die Kommunisten von der Macht und etablierten Parlamente und Parteienpluralismus. Der Ferne Osten sah in dieser Zeit gleichfalls den Fall mehrerer autokratischer Regime – in Indonesien und den Philippinen, in Taiwan und Südkorea. China bleibt da die große Ausnahme. Selbst das Armenhaus der Welt, der „schwarze Kontinent“, will sich seit einigen Jahren immer weniger mit der Tyrannei seiner Regime abfinden.

Während also von Prag bis Seoul, von Kapstadt bis San­tiago, von Moskau bis Rio sich die Welt demokratisierte, blockierten in Arabien die alternden Diktatoren und ihre nachfolgenden Söhne, diebische Scheichs, Sultane und Könige die Entwicklung. Trotz des Ölreichtums verharrten die Länder in Armut und Unterentwicklung. Der Lebensstandard der breiten Massen sank in einigen Nahostländern sogar. Und selbst in Ländern wie Ägypten und Tunesien, deren Ökonomie sich in den vergangenen Jahren ein wenig geöffnet hat und wuchs, kam das der Mehrheit der Bevölkerung nicht zugute. Es war offensichtlich, dass es zur Explosion kommen musste.
Es stimmt: Wann Revolutionen beginnen, ist so wenig vorhersagbar wie der Zeitpunkt, an dem die Erde bebt oder Vulkane ausbrechen. Aber dass kaum jemand auch nur eine Ahnung davon hatte, wer die Träger der zu erwartenden Revolutionen sein würden, ist erschütternd. Warum waren die Geheimdienste, die westlichen Regierungen und die Nahostspezialisten in den Think Tanks und Medien so ignorant?

So unterschiedlich die Situationen auch sein mögen, die neuen rebellischen Bewegungen haben in allen Ländern des Nahen Ostens, von Teheran bis Kairo, von Bahrain bis ­Algier und von Sanaa bis Amman, überall gemeinsame Züge:

- Die Religion spielt nur eine marginale Rolle.

- Auch die Feindschaft gegenüber dem Westen ist in der Revolte nicht zentral: Das Verbrennen von amerikanischen Fahnen etwa, bisher integraler Bestandteil jeder Inszenierung der „arabischen Straße“, war in diesen Tagen kaum zu sehen.

- Verschleiert oder nicht: An den Demonstrationen nehmen diesmal fast überall Frauen massiv und gleichberechtigt teil.

- Die Aktivisten sind, was die Organisation der Bewegung und die Kommunikation betrifft, mit Internet, Facebook und Twitter technologisch auf der Höhe der Zeit – voll globalisiert.

- Nirgendwo tauchen herausragende politische Führer auf. Der Einfluss der traditionellen Oppositionsparteien ist nicht dominant.

- Der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit und besserem Leben verbindet sich mit der Forderung nach politischen Freiheiten.

Der franko-iranische Soziologe Frahad Khosrokhavar sieht etwas grundlegend Neues in den Bewegungen: „In der Vergangenheit war der Panarabismus antiisraelisch, antidemokratisch und antiimperialistisch. Die islamistischen Bewegungen wiederum gründen auf dem Hass auf den Westen, der mit Imperialismus, Zionismus und allgemeinem Unglauben identifiziert wird“, analysiert er im französischen Magazin „Le Nouvel Observateur“. Zwar verlangen auch die arabischen Demonstranten von heute Gerechtigkeit für die Palästinenser. Aber nirgendwo wird zu einem Krieg gegen Israel aufgerufen. Khosrokhavar sieht „eine neue Etappe des Panarabismus, der sich erstmals mit dem Verlangen nach Demokratie verbindet“.

Warum kaum jemand auch nur im Ansatz diese Tendenzen erkannt hat, warum nur sehr wenige das Heranwachsen dieser neuen, modernen und mutigen Generation in dieser Region registrierten, die jetzt so spektakulär auf der politischen Bühne erschien, ist letztlich kein Rätsel.
Nach dem Untergang des Kommunismus wuchs die Sehnsucht nach einem globalen Antipoden, der an die Stelle des roten „Reichs des Bösen“ treten könnte, immer stärker. Bin Laden lieferte mit seinem Terror diesen Feind auf dem Tablett: den islamistischen Fundamentalismus. Die arabischen Massen, enttäuscht vom Westen und unterdrückt von ihren Machthabern, flüchteten zunehmend in die Religion. Sie schienen mit dem muslimischen Radikalismus zu flirten. Dazu kam noch, dass das neue Feindbild des Westens sich auf alte Vorurteile stützen konnte, wonach der Araber kein demokratisches Gen besitze, der Islam wirkliche Freiheit nicht zulasse und die orientalische Despotie die natürliche Herrschaftsform in diesem Raum sei.

In diesen Verblendungszusammenhang verstrickt, weigerte man sich im Westen offenbar, näher und genauer hinzusehen. Angesichts der aktuellen Ereignisse müssen aber jene Vorurteile, welche die Welt über die arabische und islamische Welt hegt, Stereotypen, die zumindest ein Jahrzehnt die Weltpolitik so verheerend prägten, aufgegeben werden. Sie wurden durch die Wirklichkeit widerlegt.

Natürlich kann noch alles schiefgehen. Die Araber haben in der Vergangenheit schon mehrmals versucht, in der Moderne anzukommen: mit westlichem Liberalismus, mit diktatorischem arabischem Nationalismus, mit sozialistischen Modellen. Sie sind immer wieder gescheitert.
Diesmal könnte es gelingen. Der demokratische Westen hat jedenfalls die Verpflichtung, der arabischen Revolution zu helfen. Auch im eigenen Interesse.

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Georg Hoffmann-Ostenhof