Robert Treichler: Achtung, Ächtung!
Leute tun gelegentlich böse Dinge und sagen verabscheuungswürdige Sachen. Manche davon sind strafbar, manche nicht. Derzeit bewegen vor allem die nicht strafbaren die Öffentlichkeit – vielleicht gerade deshalb, weil die Übeltäter empörenderweise ungestraft bleiben, obwohl sie etwas getan haben, was sie nicht hätten tun sollen.
Ein paar aktuelle Beispiele:
Die US-Schauspielerin Roseanne Barr bezeichnet vergangene Woche auf Twitter eine ehemalige afroamerikanische Mitarbeiterin von Ex-US-Präsident Barack Obama als Kind der „Muslimbruderschaft“ und des „Planeten der Affen“. Daraufhin setzt der Sender ABC die Serie „Roseanne“, deren Hauptdarstellerin sie ist, ab.
Der niederösterreichische FPÖ-Politiker Udo Landbauer legt im Februar dieses Jahres alle Funktionen zurück, weil er als stellvertretender Vorsitzender der Burschenschaft „Germania zu Wiener Neustadt“ für ein Liederbuch mitverantwortlich gemacht wird, in dem antisemitische und rassistische Texte abgedruckt sind.
Ein Wiener Ladenbesitzer soll vergangene Woche der ehemaligen grünen Nationalratsabgeordneten Sigi Maurer via Facebook zwei obszöne Nachrichten geschickt haben, in denen er ihr nahelegt, „meinen Schwanz“ in den Mund zu nehmen und „ihm (sic) bis zum letzten Tropfen“ auszusaugen. Der Mann bestreitet, die Nachricht selbst geschrieben zu haben.
Die US-Komikerin Samantha Bee nennt vergangene Woche in ihrer TV-Show Ivanka Trump, die Tochter des US-Präsidenten, eine „inkompetente Fotze“.
Peter Pilz, verhinderter Abgeordneter seiner gleichnamigen Liste, wird vorgeworfen, auf strafrechtlich nicht verfolgbare Weise Frauen belästigt zu haben.
Was tun, wenn schändliches Verhalten nicht geahndet werden kann, weil es verjährt, trotz großer Plausibilität nicht beweisbar oder eben nicht strafbar ist? Die Gesellschaft hat für solche Fälle ein Werkzeug entwickelt: die Ächtung. Die jeweilige Person wird gemieden, nicht eingeladen, nicht beschäftigt. Steht sie in der Öffentlichkeit, wenden sich Fans von ihr ab; handelt es sich um einen Politiker, wird er nicht mehr gewählt.
Die Ächtung ist ein archaisches, nicht rechtsstaatliches Instrument, das gleichzeitig in Verbindung mit sozialen Netzwerken sehr modern angewendet werden kann – die Entfreundung oder das Dislike dienen als Ächtungssymbole des digitalen Zeitalters. Einen Antisemiten, der hart an der Grenze zum Verbotsgesetz entlanggeifert, oder einen Typen, der Frauen widerwärtig anmacht, ohne dabei den Straftatbestand der Belästigung zu erfüllen, im Netz zu dissen, ist sinnvoll. Es kann helfen, gesellschaftliche Normen zu wahren und zu verbessern.
Dieses Procedere ist derzeit auf bedrohliche Weise in den Hintergrund gerückt, vielleicht, weil es dafür kein Emoji gibt.
Die Ächtung birgt allerdings auch Gefahren. Sie kennt im Gegensatz zu einer im Recht normierten Strafe keine Grenzen, keine Gleichbehandlung der Fälle, keinen Freispruch im Zweifel. Wer sich an einer Ächtung beteiligt, sollte deshalb zuvor in aller Besonnenheit überlegen, ob der Informationsstand über den Sachverhalt ausreichend und dessen Wahrheitsgehalt unzweifelhaft ist.
Doch auch im gesicherten Schuldfall muss die Ächtung noch durch ein zweites, ebenso archaisches Instrument ergänzt werden: die Entschuldigung und das Verzeihen. Dieses Procedere ist derzeit auf bedrohliche Weise in den Hintergrund gerückt, vielleicht, weil es dafür kein Emoji gibt.
Die sozialen Netzwerke archivieren Gemeinheiten, die tatsächlich dort begangen wurden, wie auch die Beschreibung von Untaten, die in der analogen Welt stattgefunden haben. Der Sexist bleibt im Netz vor aller Öffentlichkeit für immer ein Sexist, der Antisemit ein Antisemit. Das ist ein zivilisatorischer Rückschritt.
Die moderne Gesellschaft geht davon aus, dass jeder geläutert werden kann. Kriminelle werden resozialisiert, dschihadistische Terroristen durchlaufen ein Deradikalisierungsprogramm, Drogenkriminelle werden aus dem Kreislauf von Abhängigkeit und Beschaffungskriminalität befreit. Eben dies sollte auch für geächtete Beleidiger, Sexisten und Antisemiten gelten, aber natürlich nur unter einer Voraussetzung: Sie müssen sich entschuldigen. Es liegt an den Missetätern, dafür zu sorgen, dass ihre Bitte um Verzeihung glaubhaft ist.
Wissenschafter der Universität Ontario haben die dazu erforderlichen Elemente analysiert: 1. Reue. 2. Übernehmen der persönlichen Verantwortung. 3. Die Einsicht, falsch gehandelt zu haben. 4. Das Eingeständnis, jemandem Leid zugefügt zu haben. 5. Die Absichtserklärung, das nicht wieder zu tun. 6. Das Angebot einer Wiedergutmachung.
Kann man sich für alles entschuldigen? Ja. Willy Brandt entschuldigte sich als deutscher Kanzler mit einem Kniefall für den Holocaust, Großbritanniens Ex-Premier Tony Blair für die falschen Informationen, die zum Irak-Krieg geführt hatten, Papst Johannes Paul II. bekannte die Schuld des Heiligen Stuhls gegenüber Galileo ein. Entschuldigungen können spät kommen, auch nach langer Zeit des Leugnens, und sie können dennoch authentisch sein.
Natürlich auch von Mensch zu Mensch. Der afro-amerikanische Bürgerrechtler Jesse Jackson sagte 2008 (versehentlich vor laufendem Mikro) über den damaligen Präsidentschaftskandidaten Barack Obama: „Ich will ihm die Eier abschneiden.“ Er bat Obama um Verzeihung. Jackson war Wiederholungstäter. 1984 hatte er gegenüber einem Reporter den abwertenden Ausdruck „Hymie“ für Juden verwendet. Jackson hielt nach Bekanntwerden eine bewegende Entschuldigungsrede und schloss mit den Worten: „So wie ich mich entwickle und diene, habt Geduld; Gott ist noch nicht fertig mit mir.“ Die Ächtung hatte ein Ende.
Der Weg zurück sollte nicht allzu einfach sein, aber es muss auch in der digitalisierten Welt einen geben.
[email protected] Twitter: @robtreichler