Robert Treichler: Als die Gänse schliefen
Wenn es aussieht wie ein Putschversuch, tönt wie ein Putschversuch und abläuft wie ein Putschversuch, dann handelt es sich wohl um einen Putschversuch. Es sei denn, Donald Trump ist mit von der Partie. Der Sturm auf das Kapitol am Mittwoch der abgelaufenen Woche war in Wahrheit eine Simulation, wie so vieles, was der Präsidentendarsteller in den vergangenen vier Jahren inszeniert hat. Das Gipfeltreffen mit dem nordkoreanischen Diktator Kim Jong-un – die Simulation von Abrüstungsverhandlungen; die TV-Konfrontation mit seinem Herausforderer Joe Biden – die Simulation einer Debatte; seine Ankündigung, seine ehemalige Herausforderin Hillary Clinton ins Gefängnis zu bringen – die Simulation einer Strafverfolgung.
Trump simuliert Politik, er simuliert Demokratie, und er simuliert sogar deren Abschaffung. Das bedeutet allerdings nicht, dass er nicht gefährlich sei. Die Menge der Rassisten, Verschwörungstheoretiker und -praktiker und sonstiger ideologisch kaum noch zuzuordnenden Typen im Spannungsfeld zwischen Faschismus und Idiotie, die das Kapitol besetzte, war von Trump ausgesandt, um seiner Legende der gestohlenen Wahl einen theatralischen Moment zu verleihen. Nicht ein tatsächlicher Umsturz war das Ziel, sondern eine Scharade, die dem Verlierer Trump das Gefühl geben sollte, das Volk würde sich für ihn erheben.
Fünf Menschen starben, weil der abgewählte Präsident sein Ego mit einem Skandal befriedigte. Zu keinem Zeitpunkt war anzunehmen, dass der seltsame Haufen verhindern könnte, dass Joe Biden am 20. Jänner als 46. US-Präsident angelobt wird. Doch selbst die Simulation eines Putsches unterminiert die Demokratie. Der Simulator im Weißen Haus hat sich der Demokratie widersetzt. Was tun?
Was haben die USA, was haben wir alle aus der Präsidentschaft von Donald Trump gelernt? Wie soll eine Wiederholung dieses Alptraums in Zukunft verhindert werden? Es sagt sich leicht, dass man für die Demokratie kämpfen müsse, aber wie geht das, wenn ein antidemokratischer Simulator die Wahlen gewinnt? Die beunruhigende Erkenntnis des 3. November 2020 lautet: Auch 70 Millionen Wähler können irren. Eine demokratische Wahl kann auch in Zukunft jemanden wie Donald Trump als Sieger und Präsident hervorbringen. Dennoch trägt die Wählerschaft die Hauptverantwortung für das Wahlergebnis.
Die Medien hätten versagt, lautet ein oft vorgebrachter Vorwurf. Tatsächlich aber war Trump sowohl mit der geballten Recherche-Kraft aller wichtigen Redaktionen als auch mit der weitgehend einhelligen Ablehnung auf den Meinungsseiten konfrontiert. Die wahre Verantwortung und die größte Schuld am Phänomen Trump und vor allem auch an der Eskalation seit dem Wahltag des 3. November 2020 trifft die Republikanische Partei. Und daraus kann man wohl die wichtigste Lehre ziehen.
Anfangs haben die Republikaner, wie alle anderen auch, Trump unterschätzt. Danach dachten sie, man könne ihn, wenn er erst einmal im Amt sei, mittels eines engmaschigen Sicherheitsnetzes an vernünftigen Leuten einhegen und entschärfen. Auch dieser Irrtum war nachvollziehbar. Dann jedoch trat immer mehr zutage, was zuletzt vom Kapitol via Live-Übertragung in alle Welt gesendet wurde: Donald Trump macht keinen Unterschied zwischen Demokratie und Umsturz, zwischen gewählten Abgeordneten und Faschisten, zwischen Simulation und Wirklichkeit.
Allerspätestens als der Präsident ankündigte, das Wahlergebnis nicht anzuerkennen, hatte die Republikanische Partei die Pflicht, sich von ihrem Spitzenrepräsentanten loszusagen und öffentlich einzubekennen, dass es falsch gewesen war, ihn zu unterstützen. Das ist keine leichte Aufgabe, denn hinter Trump stehen 70 Millionen Wähler, und er selbst hatte der Partei ihren ersten Präsidentschaftswahlsieg seit 2004 beschert. Doch genau an diesem Punkt wird die vage Maxime, die Demokratie zu verteidigen, zur realen Entscheidung: den Antidemokraten in den eigenen Reihen zu stützen oder ihn fallen zu lassen und auf den eigenen kurzfristigen Vorteil zu verzichten.
Die Partei von Abraham Lincoln hat diese Prüfung nicht bestanden. Viel zu spät und viel zu wenig entschieden sind Vizepräsident Mike Pence, Senator Mitch McConnell und andere von Donald Trump abgerückt. Während im antiken Rom die Gänse des Kapitols beim Einmarsch der Kelten schnatterten und so die Stadt retteten, war diesmal niemand wachsam. Die Gänse schliefen, das Kapitol fiel.
Niemand soll denken, die eigene Partei werde nie vor einer solchen Situation stehen. Antidemokraten können aus jeder ideologischen Richtung gekrochen kommen. Die Idee, Trump jetzt, weniger als zwei Wochen vor dem Ende seiner Präsidentschaft, mittels des 25. Verfassungszusatzes für amtsunfähig zu erklären, wäre eine machtvolle Antwort der beiden Kammern des Kongresses und des Vizepräsidenten – also der Institutionen, denen Trump den Mob auf den Hals gehetzt hat. Doch das bringt die Republikanische Partei auch jetzt nicht zuwege.
Die Demokratie hat es überlebt. Die Republikaner sind moralisch ruiniert. Und Donald Trump? Ob er den Kandidaten für 2024 gibt oder einen QAnon-Schamanen – es wird sich um eine Simulation handeln.