Robert Treichler: Amerika, du kannst es besser
Amerika wankt, und leider ist das keine Übertreibung. Die Führungsnation der westlichen Welt war bereits von der Coronavirus-Pandemie mit über 100.000 Toten angeschlagen und von der Wirtschaftskrise mit mehr als 40 Millionen Arbeitslosen schwer getroffen. Jetzt hat mit der grausamen Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch Polizisten in Minneapolis die Schande des Rassismus, die den USA seit ihrem Entstehen anhaftet, Unruhen ausgelöst. Die USA sind an einem Tiefpunkt angelangt. Ein Teil der Welt blickt bange auf die Führungsnation des Westens, der andere voll Hass oder Hohn. Vergangenen Montag hielt Präsident Donald Trump im Rosengarten des Weißen Hauses eine Rede. Sie war kurz, präzise und so falsch, wie eine Rede in einer solchen Situation nur sein konnte. Die Worte "Rassismus" oder "Diskriminierung" kamen nicht vor, auch nicht die leiseste Andeutung eines Gedankens, wie der Staat auf den Unmut der Demonstranten reagieren könnte. Keine Einsicht in das Problem, kein Verständnis für den Unmut, kein Vorschlag zur Verbesserung.
Jede Zeit braucht ihre Antwort auf Rassismus, keine davon kann endgültig sein. Abschaffung der Sklaverei, Ende der Rassentrennung, Wahlrecht, positive Diskriminierung. Welcher Schritt ist der nächste? Eine Strafrechtsreform, bundesweite Polizeigesetze, eine Kommission zur Aufarbeitung des schweren Vermächtnisses der Rassenunterdrückung? Die amerikanische Gesellschaft muss in dieser Frage zu sich finden. Einer weigert sich, seinen Beitrag zu leisten: der Präsident.
Trump sieht die Nation ausschließlich durch Gewalttäter in den Reihen der Demonstranten bedroht und reagiert darauf mit den Mitteln eines autoritären Polizeistaates. Er ließ 1600 reguläre Soldaten auf Militärbasen rund um die Hauptstadt Washington verlegen. "Wenn ihr nicht dominiert, verschwendet ihr eure Zeit!",herrschte er die Gouverneure der Bundesstaaten an. Für ihn ist der Fall Floyd mit einer möglichen Verurteilung der beteiligten Polizisten erledigt. Eine immer tiefere Kluft zwischen Mehrheit und Minderheit(en),und die eiserne Faust als Antwort auf die drängende gesellschaftliche Frage des Rassismus: So sieht der Alptraum aus, auf den die Nation zusteuert.
Amerika, du kannst es besser. Auch wenn sich die Beziehungen zwischen den Ethnien während der Amtszeit von Donald Trump nach Ansicht von 56 Prozent der Amerikaner verschlechtert haben, schlummert in vielen Köpfen und Herzen doch der Wille, es anders zu machen. Eine relative Mehrheit von 45 Prozent findet, das Land sei in der Frage der Gleichberechtigung von Schwarzen und Weißen nicht weit genug gegangen; 39 Prozent meinen, die Reaktion sei genau richtig gewesen, und 15 Prozent meinen, man sei zu weit gegangen.
Die Nation und ihre politische Führung sollten sich zu einem schmerzhaften-und deshalb kathartischen-Eingeständnis durchringen: dass auch 155 Jahre nach Abschaffung der Sklaverei und mehr als fünf Jahrzehnte nach den Bürgerrechtsgesetzen die amerikanische Gesellschaft immer noch rassistische Strukturen aufweist. Ein Teil der Bevölkerung kämpft gegen diese Wahrheit an. Die im vergangenen Jahr verstorbene Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison schrieb 2016 im Magazin "The New Yorker", ihre weißen Landsleute hätten Trump vor allem aus Angst davor gewählt, ihre Privilegien zu verlieren.
Es braucht jetzt eine Stimme, die auch die Mehrheit der weißen Amerikaner davon überzeugen kann, dass mehr Gerechtigkeit nicht nur die Lage der Afroamerikaner und anderer Minderheiten verbessert, sondern den Zustand, die Moral und die Zukunftsaussichten der gesamten Nation.
Die USA haben in ihrer Geschichte gezeigt, dass sie selbst in Zeiten alptraumhafter Ereignisse zu Fortschritten fähig sind. Eine Woche nach der Ermordung des Bürgerrechtlers Martin Luther King im Jahr 1968 unterzeichnete Präsident Lyndon B. Johnson den Fair Housing Act, eine Erweiterung der Bürgerrechtsgesetze von 1964.
Unbeirrbar auftretende Massen können den Spirit im Land verändern. Die Polizisten, die zum Zeichen des Respekts vor den Demonstranten mit einem Bein niederknien, zeigen, was in der amerikanischen Seele steckt. Doch noch hat die Bewegung kein neues Gesicht und keine neue Stimme hervorgebracht, die den Menschen klarmacht, worum es geht, und denjenigen die Angst nimmt, die nur Ausschreitungen und Gefahr sehen. Es fehlt ein Martin Luther King, und gäbe es einen, würde er derzeit gewiss nicht im Oval Office des Weißen Hauses empfangen werden.
Kann Joe Biden, der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, die Nation versöhnen? Es wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als es zu versuchen. Der 77-Jährige hat eine historische Aufgabe. Ihm nicht zuzutrauen, diese zu erfüllen, wäre die sich selbst erfüllende Prophezeiung einer Katastrophe. Die Wahl am 3. November wird zwischen dem Weg in den Alptraum und dem Weg aus dem Koma der Ignoranz entscheiden. 2016 konnte man vielleicht noch meinen, Trump sei als Politiker für viele eine attraktive Wundertüte, von der sie sich überraschen lassen wollten. 2020 wissen endgültig alle, woran sie sind.
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