Leitartikel

Robert Treichler: Böse Demo? Gute Nachricht!

Die Reproduktionszahl des Rechtspopulismus ist unter 1 gesunken.

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Wenn Rechte demonstrieren, sorgt das immer für viel Getöse. Manchmal für deutlich zu viel. Die 20.000-Leute-Demonstration gegen die Anti-Corona-Maßnahmen der deutschen Bundesregierung etwa, die vorvergangenem Samstag in Berlin stattfand, wurde als staats-und gesundheitsgefährdende Veranstaltung und als Machtdemonstration der Rechten oder auch Rechtsextremen interpretiert. Das ist eine maßlose Übertreibung.

Erstens ist es keineswegs "rechts",gegen die Verpflichtung zur Einhaltung von Anti-Corona-Schutzmaßnahmen zu demonstrieren. Es mag unvernünftig sein (das ist übrigens meine Meinung dazu), aber es ist weder illegitim noch illegal, und dass es weder rechts noch rechtsextrem ist, lässt sich leicht beweisen: In Frankreich forderte Marine Le Pen, die Vorsitzende der rechten, von manchen auch als rechtsextrem bezeichneten Partei Rassemblement National, bereits im Mai-anders als die Regierung-das verpflichtende Tragen von Mund-Nasen-Schutz im öffentlichen Raum.

Ist also in Paris die Aufforderung zum Maskentragen rechtsextrem, in Berlin hingegen das Verweigern desselben? Tatsächlich ist es weder das eine noch das andere.

Bei der Demo in Berlin tummelte sich nach Angaben der ZDF-Journalistin Dunja Hayali "ein zum Teil kruder Mix aus Menschen von ganz links bis ganz rechts".Darunter waren fraglos auch Rechtsextreme, schließlich rief unter anderem die NPD zur Teilnahme auf, und politisch nicht zuzuordnende Idioten, wie Videos belegten, in denen Demonstranten haarsträubenden Unsinn plapperten. Aber das Demonstrationsrecht gilt nun mal auch für Rechtsextreme, Idioten, und jeglichen "kruden Mix" von Menschen jedweder ideologischer Verfassung.

 


Dass die Kundgebung am Ende von der Polizei wegen der Nichtbeachtung von Anti-Pandemie-Maßnahmen aufgelöst wurde, kann man durchaus als überschießend bezeichnen. Bei anderen Demonstrationen wurde nachsichtiger reagiert.

Ist es alarmierend, wenn Rechtsextreme (gemeinsam mit anderen) Verschwörungstheorien basteln, die eine gerade grassierende Pandemie zum Inhalt haben, und gegen behördlich angeordnete Maßnahmen opponieren? Na ja. Wenn man bedenkt, wogegen-oder besser: gegen wen-sie sonst ihren Furor richten, mutet ihr Anti-Corona-Feldzug eher harmlos an. Zumal er keine große Wirkung entfacht, 20.000 Kundgebungsteilnehmer sind in der Millionenstadt Berlin keine Riesensache.

 

"Die Hassschleuder scheint derzeit leerzulaufen."

Dennoch reagieren Medien und Öffentlichkeit auf das Anti-Masken-Tamtam der Rechten so heftig, dass eine viel bedeutendere Nachricht, die sich hinter dem Treiben verbirgt, unbeachtet bleibt: Die pandemische Ausbreitung des Rechtspopulismus ist im Abklingen. Die Fallzahlen sinken.

Während es in den vergangenen Jahren rechten Parteien, Bewegungen und Einzelpersonen immer wieder gelang, mit emotional besetzten Themen - und zwar ausnahmslos mit negativen Emotionen - weit über ihren eigentlichen Anhängerkreis hinaus Zustimmung zu ernten, scheint die Hassschleuder derzeit leerzulaufen.

Belege dafür gibt es zuhauf: Die AfD liegt in Umfragen derzeit bei elf Prozent, vor zwei Jahren waren es 18 Prozent und der zweite Platz hinter der Union. Auch die italienische Lega von Matteo Salvini rutschte von 35 Prozent auf 25 Prozent ab. Die heimische FPÖ befindet sich seit Ibiza in Quarantäne. US-Präsident Donald Trump muss zusehen, wie drei Monate vor der Wahl sein Konkurrent Joe Biden mit großem Vorsprung voran liegt.

All die mauen Werte kommen nicht von ungefähr. Die apokalyptischen Prognosen einer Islamisierung des Kontinents, verbunden mit schierer Gemeinheit gegenüber Migranten, haben offensichtlich ihren morbiden Reiz verloren. Salvini steht demnächst vor Gericht, weil er als Innenminister im August 2019 einem Schiff mit 80 Migranten an Bord das Anlegen untersagt und diese nach Meinung des Staatsanwalts dadurch misshandelt hat. Ein solches Verhalten war  -unerklärlicherweise - vor nicht allzu langer Zeit bei erschreckend weiten Teilen der Bevölkerung populär. Jetzt offenbar nicht mehr ganz so.

Auch die Party-Stimmung der Anti-EU-Proponenten ist verflogen. Wer möchte angesichts eines 750 Milliarden schweren Wiederaufbaufonds ausgerechnet jetzt die Europäische Union verlassen? Bitte Hand heben! Gleichzeitig illustrieren die kläglichen Resultate der britischen Regierung, dass Brexit-Versprechen kaum mehr wert sind als das Ehegelübde eines Heiratsschwindlers. Wie viele irrsinnig lukrative Handelsabkommen hat "Global Britain" seit dem Austritt abgeschlossen? Gar keines. Nicht einmal eines mit den USA und dem guten Freund und Unterstützer Trump kam bisher in die Nähe eines Abschlusses.

Bleibt den Rechtspopulisten im Moment also nur noch das Gezeter wegen der Anti-Pandemie-Maßnahmen, und sogar das müssen sie im Chor mit allen möglichen anderen Gruppen anstimmen.

Solange die Reproduktionszahl des Rechtspopulismus weit unter 1 liegt, ist eine Demo gegen Hygienemaßnahmen nicht nur erträglich, sondern als Beleg für die Desorientierung der Rechten ein gar nicht unerfreulicher Anblick.

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Twitter:@robtreichler

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur