Robert Treichler
Leitartikel

Robert Treichler: Der Irrtum der Pazifisten

Ich war selber einer.

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Beginnen wir mit einem kurzen Selbsttest: Welcher der folgenden Aussagen stimmen Sie zu?

1. Der Westen darf diesen Krieg nicht weiter eskalieren, sonst steigt die Opferzahl.
2. Im Krieg verlieren alle, es kann keinen wirklichen Sieger geben.
3. Die Verherrlichung von sogenannten Helden ist nichts anderes als eine Form von Kriegsbegeisterung.
4. Aufrüstung führt letztlich nur zu weiteren Kriegen.

All das sind Einwände, die derzeit gegen die Sinnhaftigkeit der militärischen Verteidigung der Ukraine vorgebracht werden. Aber was ist von pazifistischen Ideen zu halten, wenn die russische Armee über die Ukraine herfällt? Eine persönliche Offenlegung: Ich war als junger Mann Pazifist, habe Zivildienst geleistet und fühlte mich insofern als Teil der Friedensbewegung.

Punkt 1

Nein, „eskalieren“ klingt natürlich gar nicht gut. Die Frage ist, ob es Sinn macht, dies einem angegriffenen Staat und dessen Unterstützern vorzuwerfen. Kann man Selbstverteidigung „eskalieren“? Soll man der Ukraine zwar ein bisschen zu Hilfe kommen, aber nur mit solchen Waffen, die knapp schwächer sind als die der Russen?

Entscheidend ist, dass es sich um Waffen handelt, die der Verteidigung dienen, nicht um solche, mit denen die Ukraine einen Gegenangriff auf russisches Territorium startet. So gibt der Westen Putin keine Rechtfertigung dafür, die NATO zum Aggressor zu stempeln.

Die freie, friedliebende Welt braucht Waffen. Ohne jede Begeisterung.

Militärische Hilfe dieser Art ist nicht neu. Die USA sandten 1973 im Jom-Kippur-Krieg Israel, das von Ägypten und Syrien angegriffen worden war, schwere Waffen – Panzer, Geschütze, Kampfflugzeuge. Die sogenannte „Operation Nickel Grass“ war erfolgreich. Bedeutete sie auch eine „Eskalation“? Das wäre eine völlig absurde Bezeichnung für das Zurückschlagen des Aggressors.

Punkt 2

Dass im Krieg alle verlieren, ist eine Binsenweisheit, wenn man damit ausdrückt, dass es auf beiden Seiten Opfer gibt. Falsch ist jedenfalls, dass es keinen Sieger geben kann. Der Begriff „Siegermächte“ wird zu Recht verwendet, jedes Schulkind lernt, wer den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat. Manchmal ist es nicht eindeutig, wer obsiegt hat, unerheblich ist es keinesfalls, und ganz bestimmt nicht dann, wenn ein autoritärer Staat eine Demokratie unterjochen will.

Punkt 3

Verherrlichen wir den Krieg, wenn wir Leute, die ihr Land verteidigen, Helden nennen? Nein, nicht „den Krieg“, sondern die Tatsache, dass jemand sein Leben riskiert, um, zum Beispiel, eine demokratische Ukraine zu bewahren. Mit „toxischer Männlichkeit“ hat das erst mal gar nichts zu tun. Kämpferinnen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG, die ihr Land gegen Dschihadisten verteidigen, tun auf ebenso heldenhafte Weise dasselbe und sehen dabei auch nicht wesentlich anders aus als bewaffnete ukrainische Männer.

Punkt 4

Und die Aufrüstung, zu der sich Europa plötzlich genötigt zu sehen glaubt? Sie widerspricht dem ehernen Grundsatz der Friedensbewegung, wonach Waffen immer neue Konflikte schaffen und verschärfen. Wolfgang Thierse, ehemaliger Präsident des Deutschen Bundestags, kam in einem Gastkommentar für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ bei allem Respekt für die Friedensbewegung zu dem Schluss, dass er den „schönen Appell gegen die Hochrüstung“ nicht unterschreiben wolle. Das demokratische Europa brauche, so Thierse, die Fähigkeit zur Selbstverteidigung.

Haben wir Pazifisten uns all die Jahrzehnte geirrt? Ja, aber nicht ganz. Die „Friedenslogik“ machte Sinn – und macht auch heute noch Sinn –, wenn das Gegenüber bei aller Feindschaft rational handelt. Die Einbindung der Gegner in ein gemeinsames Wirtschaftssystem war das Geheimnis der Befriedung Europas und eines nicht kleinen Teils der Welt. Auch Ein-Parteien-Systeme und Diktatoren scheuen Kriege, wenn ihnen klar ist, dass sie sich und ihrem Staat damit viel größeren ökonomischen Schaden zufügen, als sie im besten Fall gewinnen können.

Doch es gibt leider Fälle, die sich dieser Logik entziehen: Rücksichtslose, großmannsüchtige Hyper-Nationalisten wie Putin, denen der Schaden für ihr Land egal ist; fanatische Dschihadisten, deren Kosten-Nutzen-Rechnung nicht von dieser Welt ist; verblendete Ideologen, deren Irrsinn jeder Rationalität spottet. Für sie braucht die freie, friedliebende Welt Waffen. Aus Notwendigkeit, und ohne jede Begeisterung.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur