Robert Treichler
Leitartikel

Robert Treichler: Der Kampf um die freie Welt

Putins Überfall auf die Ukraine zeigt, wie das 21. Jahrhundert aussehen könnte. Dunkel, barbarisch, autoritär. Doch dazu muss es nicht kommen.

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Fassungslosigkeit ist eine verständliche erste Reaktion auf das Unbegreifliche, das sich eben 
ereignet: ein brutaler Angriffskrieg in Europa, gerechtfertigt mit den fadenscheinigsten Begründungen. Er habe seine Streitkräfte in die Ukraine entsandt, um das Land zu „entnazifizieren“ und um einen „Genozid“, verübt von dem „Regime in Kiew“, zu stoppen, sagte Russlands Präsident Wladimir Putin in einer voraufgezeichneten Rede, die am Donnerstag in den frühen Morgenstunden ausgestrahlt wurde. Selten war Unsinn so widerlich und gleichzeitig folgenschwer. Entnazifizieren? Die Ukraine ist das einzige Land der Welt mit Ausnahme Israels, dessen Staats- und Regierungschef beide Juden sind. Für den behaupteten Genozid an Russen nennt Putin keinerlei Beleg, weil es diesen Genozid nicht gibt. Putins Kriegsgründe werden in der langen Geschichte der Angriffskriege einen ehrlosen Platz unter den absurdesten Vorwänden bekommen.

Wladimir Putin hat den Krieg, den wir aus Europa verbannt glaubten, wieder auf unseren Kontinent  gebracht. Die Toten, das Leid, den Schaden hat er zu verantworten. Der Westen wird ihn dafür hoffentlich bezahlen lassen und ihn ab jetzt als den behandeln, der er ist: ein Verbrecher.

Doch der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist nicht nur ein schreckliches, singuläres Ereignis, verschuldet von einem einzelnen rücksichtslosen Machtpolitiker. Er eröffnet uns einen Blick auf das 21. Jahrhundert, wie wir es lieber nicht sehen würden.

Betrachten wir die Welt für einen Moment so wie Wladimir Putin, als er im vergangenen November entschied, seine Truppen entlang der ukrainischen Grenze zu stationieren und eine Eskalation einzuleiten, an deren Ende der unausweichliche Krieg stand. Lange schon war ihm die Entwicklung der Ukraine weg von Moskau und hin zu einem westlichen, demokratischen Staat ein Dorn im Auge. Warum aber beschloss er gerade jetzt, mittels Androhung militärischer Gewalt einen Erpressungsversuch gegen die Ukraine und die NATO zu unternehmen und schließlich, vergangenen Donnerstagfrüh, seine Drohung wahrzumachen? Die Antwort: Putin schätzt den Westen – zuvorderst die USA – als schwach ein. Er war sicher, dass die militärische Übermacht der USA nicht zum Einsatz kommen würde und dass Russland sowohl dem politischen als auch dem wirtschaftlichen Druck standhalten werde. Also schlug er zu.

Die Frage ist nun: Behält Putin recht?

Verabschieden wir uns zunächst endgültig vom 20. Jahrhundert, das mit gutem Grund das American Century genannt wurde. Während des Kalten Krieges wurde den Vereinigten Staaten die Rolle der Weltmacht Nummer eins zwar von der Sowjetunion streitig gemacht, doch ihre Überlegenheit war auch damals deutlich, und mit dem Zerfall des kommunistischen Einparteienstaates blieb Amerika schließlich als einzige Supermacht übrig.

Der Kampf der Demokratie gegen die Autokratie wird mühsam, kostspielig und opferreich. Wir müssen ihn gewinnen.

Ein wichtiges Element des Amerikanischen Jahrhunderts war die „Pax Americana“. Unter der Vorherrschaft der USA breitete sich das, was man „westliche Werte“ nennt – individuelle Freiheit, liberale Demokratie, Marktwirtschaft – aus, wiewohl Washington aus machtpolitischen Gründen selbst immer wieder gegen diese Werte verstieß und auch diktatorische Regime stützte. Entscheidend war für alle Staaten, dass es wenig ratsam war, gegen den Willen der militärisch, technologisch und wirtschaftlich überlegenen Supermacht zu agieren. Insgesamt entwickelte sich die Welt in dieser Ära – trotz aller dunklen Flecken – zum Positiven. Die unabhängige Nichtregierungsorganisation Freedom House, die jährlich den Zustand der globalen Demokratie erhebt, listete im Jahr 2005 89 „freie“ Staaten auf, dazu weitere 58 „teilweise freie“ und 45 „unfreie“.

Seither geht es allerdings bergab. 15 Jahre in Folge sinkt die Zahl der freien Demokratien laut Freedom House, und die unfreien Regime werden mehr. Für das Jahr 2020 erhob die Economist Intelligence Unit (ein Unternehmen der britischen Economist-Gruppe), dass 70 Prozent aller Staaten weniger demokratisch waren als im Jahr zuvor.

Die Welt erlebt einen drastischen Anstieg autoritärer Regierungen. Doch nicht nur das. Mit China verfügen diese Regime über einen Leuchtturm, wie es (einst) die USA für die freie Welt gewesen sind. Ehe Putin gegen die Ukraine losschlug, traf er am 4. Februar bei den Olympischen Spielen in Peking Chinas Machthaber Xi Jinping. Und entgegen ihrer Doktrin, jegliche Einmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten zu verurteilen, sieht die chinesische Führung keine Invasion Russlands, sondern alle Schuld bei den USA. Damit ist auch klar, dass Peking Moskau wirtschaftlich die Stange halten wird. China ist der Leader of the Unfree World.

Wir sind spätestens jetzt in der multipolaren Welt angekommen, über deren Entstehung sich viele kluge Leute schon lange den Kopf zerbrochen haben. Allerdings klang die Verteilung der Macht auf mehrere Zentren oft nach einer gar nicht mal so unattraktiven Art von gesundem Pluralismus. Nun aber zeigt sich eine ganz andere, schaurige Version der Multipolarität. Autoritarismus breitet sich aus, und wer sich mit diesem informellen Block unter der ebenso informellen Führung Chinas arrangiert, kann den Westen, die Demokratie, das Völkerrecht und auch die einstige militärische Abschreckung ignorieren und das Faustrecht ausüben. Das 21. Jahrhundert werde wohl ein „dunkles Jahrhundert“, befürchtet „New York Times“-Kommentator David Brooks.

In diesem düsteren Zeitalter, das nun anzubrechen scheint, stehen einander die freie, demokratische Welt und die unfreie, autoritäre Welt feindlich gegenüber. Der Kampf um die Vorherrschaft hat begonnen.

Sind wir auf diese Auseinandersetzung vorbereitet?

Wir müssen eingestehen, dass die USA und Europa seit einigen Jahren kein besonders nachahmenswertes Bild der Demokratie abgegeben haben. Große Teile der Gesellschaft misstrauen den staatlichen Institutionen und wenden sich autoritären Denkmustern und zerstörerischen politischen Kräften zu. Die Verteidiger der Demokratie wiederum erweisen sich selbst oft als debattenunfähig. Das Ergebnis ist allzu oft eine gespaltene, jedem Konsens abgeneigte Bevölkerung, die Krisen verschleppt und verschlimmert, anstatt sie zu lösen. Dazu kommt über die Jahre wirtschaftliche Stagnation und daraus resultierend Frust statt Dynamik. Als Folge davon sind sowohl die USA als auch die EU auf destruktive Art mit sich selbst beschäftigt.

In einer Mischung aus Ressentiment und diffuser Rebellion werden Politiker auf demokratischem Weg in höchste Ämter gewählt, die selbst mit der Demokratie auf Kriegsfuß stehen. Donald Trump taugt als prototypisches Beispiel, aber er ist nicht der Einzige. Willig lassen sich weite Teile der Bevölkerung dazu manipulieren, abstrusen Verschwörungstheorien anzuhängen. Bürgerrechte, die nirgendwo so ausgeprägt sind wie im freien Westen, werden ausgerechnet hier bestritten: Wegen der gesetzlichen Vorschrift einer Schutzimpfung gegen das Coronavirus wird die Behauptung verbreitet, es herrschten diktatorische Zustände.
Die dumpfe Grundstimmung nach innen paart sich mit Mutlosigkeit nach außen.

Die einstige Weltpolizei USA hat sich aus wesentlichen Konflikten zurückgezogen. 2013 setzte der syrische Diktator Baschar al-Assad Giftgas ein und überschritt damit die „rote Linie“, die US-Präsident Barack Obama gezogen hatte. Die Tat blieb folgenlos. Unter Donald Trump meldete sich Washington oftmals aus dem Revier berechenbarer Außenpolitik ab, und der aktuelle US-Präsident Joe Biden hat Afghanistan den Taliban überlassen.

All das sind Puzzleteile, die ein Weltbild ergeben, in dem Männer wie Putin und Xi zu Leitfiguren einer neuen alten Rücksichtslosigkeit aufsteigen. Putin ist zur Stunde dabei, den Staat Ukraine zu zerstören und ihn zu einer russischen Kolonie umzufunktionieren. Bald könnte Xi dasselbe mit Taiwan anstellen.

Doch das 21. Jahrhundert muss nicht diese scheußliche Gestalt annehmen, deren Schemen sich jetzt abzeichnen. Die Demokratie hat entscheidende Trümpfe gegenüber dem Autoritarismus – wenn die freie Welt sie ausspielt.

Als Erstes wird sich in der Ukraine selbst zeigen, welchen Widerstand die Ukrainerinnen und Ukrainer gegenüber der Unterwerfung unter Putins Herrschaft leisten werden. Nicht militärischen Widerstand, sondern zivilen, falls eine prorussische Marionettenregierung eingesetzt wird, um das Land zu regieren. Die Ukraine hat die Demokratie kennengelernt – bestimmt keine makellose, aber immerhin –, und die Bevölkerung wird sie sich nicht so einfach nehmen lassen. Den Unterschied zwischen Freiheit und Diktatur braucht man Menschen, die vom ersten ins zweite gezwungen werden, nicht lange zu erklären.

Auch uns Österreicher und alle Bürger des Westens wird die scheußliche Erfahrung, mitansehen zu müssen, wie ein europäisches Volk seiner Selbstbestimmung beraubt werden soll, wachrütteln. Traurig, dass dies nötig ist, aber wichtig, dass wir vor Augen geführt bekommen, was wir an der Demokratie und unseren Bürgerrechten haben, die immer öfter in Zweifel gezogen werden.

Demokratie wird im 21. Jahrhundert nicht mehr so einfach zu kriegen und zu verbreiten sein. Im 20. Jahrhundert war sie oft die Voraussetzung, um mit der größten Wirtschaftsmacht der Welt ins Geschäft zu kommen. Heute winkt Peking mit dem sagenhaften Investitionsvolumen der „Neuen Seidenstraße“, und autoritäre Verhältnisse stehen lukrativen Deals nicht im Weg, im Gegenteil.

Glücklicherweise hat die Autokratie einen inhärenten Haken. Autokraten sind, weil sie ohne Opposition, ohne politischen Wechsel und damit ohne Kontrolle und Gegengewicht agieren, fehleranfällig, rücksichtslos und deshalb am Ende verhasst.

Das allein verhilft der Freiheit jedoch noch nicht zum Sieg. Sind wir bereit, uns für die Demokratie auf der Welt einzusetzen und Opfer zu bringen? Das beginnt gerade jetzt mit den Sanktionen gegen Russland. Wie lange werden wir sie tragen, wenn der unerwünschte Nebeneffekt steigender Energiepreise und damit einhergehender Inflation unseren Alltag belastet? Ein halbes Jahr? Ein ganzes? Oder doch so lange, bis die Ukraine wieder frei ist?
War es klug, ein Land wie Afghanistan fallen zu lassen, weil sich der erwünschte Erfolg nicht einstellte? Wäre es nicht doch sinnvoller, die harte Arbeit der Demokratisierung – mit besseren Mitteln – fortzusetzen, anstatt der Welt vor Augen zu führen, dass die freie Welt am Ende doch das Interesse verliert?

Der Kampf der Demokratie gegen die Autokratie wird mühsam, kostspielig und opferreich. Wir müssen ihn gewinnen. Es steht viel auf dem Spiel. Jetzt die Ukraine, bald noch mehr. 

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur