Kommentar

Die Bürde von Bagdad

Was der Irakkrieg von 2003 mit Putins Krieg in der Ukraine zu tun hat – und was nicht.

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An diesem Montag vor genau 20 Jahren begann die Invasion der USA und Großbritanniens mit einer „Koalition der Willigen“ in den Irak. Ich wünschte, ich würde hier ein zeitgeschichtliches – weil abgeschlossenes – Ereignis beschreiben, aber das ist es leider nicht. Der Irakkrieg und seine Folgen beschäftigen die Welt bis heute auf sehr unterschiedliche Weise. In erster Linie ist die irakische Bevölkerung dazu verdammt, auszubaden, was die Invasion angerichtet hat. Hunderttausende tote Irakerinnen und Iraker, einen Bürgerkrieg, den Aufstieg des „Islamischen Staates“, und so gut wie nichts von alldem, was versprochen worden war: keine Stabilität, keine Demokratisierung. Im Demokratie-Index der „Economist Intelligence Unit“ des Jahres 2022 liegt der Irak auf Platz 124 von 167 Staaten und hat zum Jahr davor sieben Plätze verloren.

Der Irakkrieg ist ein noch größeres Desaster als der Krieg in Afghanistan. Während Letzterer immerhin einen nachvollziehbaren Anlass hatte – die dortige Taliban-Regierung beherbergte die Terrororganisation Al Kaida, die die Anschläge von 9/11 verübt hatte –, so erwiesen sich die Behauptungen, die von den USA als Kriegsgründe für den Krieg gegen den Irak vorgebracht worden waren, allesamt als haltlos. Das irakische Regime des Diktators Saddam Hussein verfügte über keinerlei Massenvernichtungswaffen, und es hatte nichts mit den Anschlägen von 9/11 zu tun.

Man darf Putin nicht laufen lassen, nur weil Bush straffrei blieb.

Dass die USA unter einem falschen Vorwand, den sie noch dazu im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vorbrachten, einen Krieg begannen, hat ihre Glaubwürdigkeit bis heute beschädigt. Dieser Umstand wird neuerdings gern dazu benutzt, um die Politik der westlichen Allianz gegenüber Russland in Zweifel zu ziehen. Der Vorwurf lautet, der Westen sei um nichts besser als Russland, spiele sich aber als moralische Instanz auf. Ist da etwas dran?

Wahr ist, dass der Angriff auf den Irak für die USA und Großbritannien ein Schandfleck bleibt. Wurden die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft gezogen? Auf politischer Ebene und was ihre persönliche Reputation betrifft: zum Teil. Der damalige US-Außenminister Colin Powell, der die vermeintlichen „Beweise“ für die Massenvernichtungswaffen im UN-Sicherheitsrat präsentiert hatte, bereute seine Rede später bitter – und öffentlich. „Es tut weh“, sagte er tief getroffen in einem TV-Interview. Tatsächlich hatte sich Powell vom Weißen Haus unter Präsident George W. Bush mittels fragwürdiger Beweise in die Irre führen lassen. Er hatte alle Zweifel verworfen und seine Loyalität gegenüber Bush über sein Gewissen gestellt.

Der britische Premier Gordon Brown gab 2009 eine unabhängige Untersuchung in Auftrag, die sieben Jahre dauerte und deren Schlussfolgerungen für Tony Blair, den Premier, der die Teilnahme am Irakkrieg zu verantworten hatte, niederschmetternd ausfiel. Blair sagte damals: „Ich bringe mehr Reue, Bedauern und Entschuldigung zum Ausdruck, als man jemals glauben könnte.“

Keiner der Architekten des Irakkriegs stand jemals vor Gericht. Ein Versuch, Blair anzuklagen, scheiterte, weil es im britischen Recht kein Delikt gibt, das einen „Angriffskrieg“ erfasst. Auch der Internationale Strafgerichtshof hatte zum Zeitpunkt der Irakinvasion das Delikt des Angriffskrieges nicht in seinem Statut.

Eine Parallele zum aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine zu ziehen, führt leicht in die Irre. Antiamerikanische Demagogen versuchen, alle Unterschiede zu verwischen, um Putin zu entlasten. Dabei ist die Diskrepanz nicht zu übersehen: Während die US-Allianz einen Diktator stürzte und wenigstens Versuche unternahm, danach demokratische Institutionen aufzubauen, überfiel Wladimir Putins Russland einen demokratischen Staat, um daraus einen Vasallenstaat zu machen. Die USA erlebten um die Jahrtausendwende eine kurze Phase uneingeschränkter Supermacht, und in den Worten des US-Politikwissenschafters Francis Fukuyama ist ihnen „in diesem Moment der Unipolarität die Dominanz zu Kopf gestiegen“. Sie agierten in rücksichtsloser Selbstüberschätzung und glaubten, mittels Übermacht einen Staat zur Demokratie zwingen zu können. Putin hingegen will einem Volk seinen Autoritarismus aufzwingen.

Die Lehren aus dem Irakkrieg zieht man am besten im Umkehrschluss: Soll die Tatsache, dass die USA einen ungerechten Krieg gegen den Irak geführt haben, rechtfertigen, jetzt der Ukraine bei ihrer Verteidigung nicht beizustehen? Und: Soll die Tatsache, dass die für den Irakkrieg Verantwortlichen nicht rechtlich belangt wurden, dazu führen, dass auch in Zukunft Kriegstreiber nicht vor Gericht gestellt werden?

Fehler der Vergangenheit, zumal so katastrophale wie der, unter einem falschen Vorwand einen Krieg zu beginnen, sollten wenigstens nicht als Blaupausen für weitere Untaten dienen. Oder, um es als Utopie zu formulieren: Der Irakkrieg sollte der letzte ungerechtfertigte Angriffskrieg gewesen sein, dessen Urheber nicht vor Gericht standen.

Ja, ich weiß, diese Utopie wird, wie die meisten Utopien, wohl nicht Realität werden. Aber sie ergibt mehr Sinn, als Putin laufen zu lassen, nur weil Bush straffrei blieb.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur