Robert Treichler

Robert Treichler: Ein schlimmer Verdacht

Bekommt die Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidaten, damit sie militärisch klein beigibt?

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Der Unterschied zwischen Wladimir Putins Russischem Reich und der Europäischen Union in einem Satz erklärt: Putin entsendet seine Streitkräfte, um fremdes Territorium zu besetzen, und erklärt es zu seinem; die Europäische Union hingegen lädt ein Land ein, aus freien Stücken einen Beitrittsantrag zu formulieren.

Es geht um das Schicksal der Ukraine. Beim Europäischen Rat am Donnerstag und Freitag der kommenden Woche wird entschieden, ob das Land als erstes in der Geschichte der EU mitten in einem Krieg den Status eines Beitrittskandidaten erhält. Nach der Bahnreise der Staats- und Regierungschefs Emmanuel Macron, Olaf Scholz und Mario Draghi in die ukrainische Hauptstadt Kyiv (Kiew) spricht alles dafür, dass die Ukraine dieses Ziel erreichen wird. Das ist gut so.

Die russische Invasion dauert an, ukrainische Bürgerinnen und Bürger verlieren ihr Leben oder müssen fliehen, Städte werden zerstört, die Wirtschaft vernichtet; um an die Zukunft glauben zu können, braucht das gepeinigte Land ein Emblem. Wir sollten stolz darauf sein, dass es die Flagge der EU sein soll.

Die Begeisterung für den wehrhaften Patriotismus der Ukrainer lässt in Westeuropa nach. 

Alle Einwände dagegen bleiben blass. Korruption, mangelnde Rechtsstaatlichkeit, schwache Institutionen? All das braucht Zeit, aber niemand ist besser geeignet, Reformen voranzubringen, als die EU. Und die Tatsache, dass Balkanstaaten seit Langem – viel zu lange – auf Beitrittsschritte warten? Dieser Fehler, den Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg zu Recht kritisiert, kann nicht dadurch ausgebessert werden, dass man ihn ein weiteres Mal begeht.

Eine freie, demokratische Ukraine, die sich (wie auch Georgien und Moldau) für die EU entscheidet, ist die einzig richtige Antwort auf alle Umtriebe des Kremls seit 2014. Das ist – wenn alles gut geht und der Rat der 27 dies einstimmig beschließt – das erfreuliche Resultat des Interrail-Trips von Macron, Scholz und Draghi.
Doch es ist nicht das einzige.

So groß die Freude von Ukraines Staatspräsident Wolodymyr Selenskij über die politische Unterstützung durch das EU-Trio ist, so groß ist auch die Enttäuschung über die unzureichende militärische Hilfe. 1000 Haubitzen (Artilleriegeschütze) benötige die ukrainische Armee, um den russischen Angreifern Paroli bieten zu können, sagte kürzlich einer von Selenskijs Beratern. Macron versprach weitere sechs zu den bereits zwölf gelieferten, während die USA immerhin bereits 108 dieser schweren Waffen an die Ukraine übergeben haben. Und Deutschland? Kanzler Scholz bekräftigte, „weiterhin“ schwere Waffen liefern zu wollen. Bloß: Damit stellte Scholz lediglich in Aussicht, die bereits seit Ende April zugesagten Waffen – Flugabwehrpanzer, Luftabwehrsystem, Mehrfachraketenwerfer – tatsächlich zu liefern. Weitere konkrete Absichtserklärungen gab es nicht.

Steckt dahinter eine unausgesprochene Strategie? Politischer Beistand ja, militärische Hilfe eher nein? Damit könnte eine Absicht verbunden sein. Präsident Macron hat in den vergangenen Wochen zweimal davor gewarnt, Russland zu „demütigen“, und sich damit in Erklärungsnotstand begeben. Würde eine erfolgreiche Verteidigung des ukrainischen Territoriums etwa einer Demütigung Russlands gleichkommen? Ist das die Haltung des aktuellen Ratsvorsitzenden? Macron ruderte zurück und erklärte, der „Sieg der Ukraine“ sei weiterhin das Ziel.

Zweifel sind geblieben, und die kargen Zusagen von Waffenlieferungen haben sie noch verstärkt. Wollen Frankreich und Deutschland die Ukraine militärisch geschwächt zu einem Abbruch ihrer Verteidigungsanstrengungen und zu für sie denkbar ungünstigen Verhandlungen drängen?

Motive dafür hätten Paris und Berlin. Der anhaltende Krieg treibt die Inflation, belastet die Wirtschaft und bringt die europäischen Regierungen entsprechend in Bedrängnis. Die Begeisterung für den wehrhaften Patriotismus der Ukrainer lässt in Westeuropa nach.

Macron und Scholz tun alles, um den Verdacht zu zerstreuen, sie würden die Ukraine gegen deren Willen in Richtung von Verhandlungen schubsen, bei denen Kyiv die Rolle der besiegten Nation einnehmen müsste. „Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen“, deklamierte Macron in Kyiv.
Doch der Erfolg oder Misserfolg der ukrainischen Armee hängt zu einem Gutteil von deren Bündnispartnern im Westen ab. Verzögerte Lieferungen von zu wenig Waffen wiegen mehr als feierliche Bekenntnisse.

Die Zuerkennung des EU-Beitrittskandidaten-Status darf kein Ausgleich dafür sein, die Ukraine militärisch hängenzulassen. Putin setzt Europa mit verminderten Gaslieferungen unter Druck, weil er hofft, das westliche Bündnis dadurch so kleinzukriegen, dass es den Verteidigungskrieg der Ukraine zu beenden versucht. Gelingt ihm das, hat er die Europäische Union und die Ukraine gleichermaßen besiegt. Die EU hätte ihre Seele verkauft, und der Ukraine bliebe nichts anderes übrig, als einer Union beizutreten, von der sie zuvor verraten worden wäre.

Die Verleihung des Kandidatenstatus an die Ukraine und die Unterstützung ihres Verteidigungskampfes sind keine beliebigen Optionen. Die Ukraine soll auf den Beitritt zu einer Union hinarbeiten, von der sie in einem existenzbedrohenden Krieg nicht fallengelassen wurde.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur