Robert Treichler: Das ist er also
Eine Aufenthaltsgenehmigung, ausgestellt am 15. Januar 2009 im Département Alpes-Maritimes auf den Namen Mohamed Salmene Lahouaiej-Bouhlel, gültig bis 14. Januar 2019. Darauf ein Passfoto des Mannes. Ovales Gesicht, die dunklen Haare nach hinten gekämmt, Rollkragenpullover; Ziemlich unscharf und in Schwarz-Weiß. Das ist der Attentäter von Nizza, dieses Bild seiner Person ging durch die Weltmedien. Wir sahen es uns an und dachten: „Das ist er also.“
Solche Momente sollen wir in Zukunft nicht mehr erleben, meinen manche Medienmacher. Die Redaktionen der französischen Tageszeitungen „Le Monde“ und „La Croix“, die Führungen der Fernsehsender France 24 und BFM-TV und noch einige weitere Medien haben beschlossen, Fotos von Terroristen nicht länger zu veröffentlichen. Der französische Radiosender „Europe 1“ will auch darauf verzichten, die Namen der Täter zu nennen. Es ist ein wohl überlegter Entschluss, den die Verantwortlichen ausführlich begründen. „Le Monde“ schreibt in seinem Editorial, dass sich Websites und Zeitungen nicht von der Verpflichtung entbinden könnten, über die Konsequenzen ihrer Vorgangsweise nachzudenken. Die Fotos von Terroristen hätten das Potenzial, von Fanatikern als „posthume Glorifizierung“ wahrgenommen zu werden. Das wiederum hätte den Effekt, Nachahmungstäter zum Zuschlagen zu motivieren, um „in den Augen ihrer Kommandanten und ihrer Freunde Ruhm zu ernten“, argumentiert Fetih Benslama, Psychoanalytiker der Pariser Diderot Universität. Er plädiert für ein Abkommen aller Medien, Namen und Fotos von Attentätern in der Berichterstattung wegzulassen.
Das klingt vernünftig. Wenn diese Beschränkung dabei hilft, die Medienstrategie des „Islamischen Staates“, dem erklärten Feind unserer Zivilisation, zu sabotieren, dann sollte es uns das wert sein, Fotos und Namen in unseren Zeitungen zu vermissen. Und doch wird profil sich nicht an dieser Aktion beteiligen und weiterhin alle relevanten Informationen über Terroristen – auch Namen und Fotos – publizieren. Warum?
Ich – und die Chefredaktion von profil – halten das Weglassen von Informationen in fast allen Fällen für falsch, und in diesem ganz besonders. „Wer war der Attentäter?“ gehört zu den wichtigsten Fragen nach einem Terrorakt. Die Identifizierung der Person geschieht über Namen und Foto. Erst wenn diese Elemente von den Sicherheitsbehörden freigegeben werden, wissen wir, mit wem wir es zu tun haben.
Niemand glaubt, dass ein totales Blackout überhaupt möglich ist.
Der Einwand dagegen lautet: Ist das notwendig? Was sagt uns der Name? Was haben wir davon, zu wissen, wie der Mann aussieht? Antwort: Die Identifizierung „ein 31 Jahre alter Mann aus Nizza“ ist kein Ersatz für den Namen. Der Briefbomber war nicht ein „47 Jahre alter Mann aus Gralla“, sondern Franz Fuchs; der Terrorist von Oslo und Utoya ist nicht „ein 32 Jahre alter Mann aus Oslo“, sondern Anders Behring Breivik.
Welche Täter sollten anonymisiert werden: Nur IS-Attentäter oder auch Amokläufer und Rechtsextreme, die Flüchtlingsheime attackieren? In welchen Fällen besteht erhöhte Nachahmungsgefahr? Redaktionen würden sich plötzlich intensiv damit beschäftigen, was alles aus welchen Gründen geheim bleiben soll.
„Name der Redaktion bekannt“ ist für den Leser eine Zumutung und schürt einen schlimmen Verdacht: Ein Nachrichtenmedium, das aus Angst vor den Konsequenzen einer Veröffentlichung Informationen zurückhält, könnte aus denselben Gründen auch andere Dinge verschweigen. In Zeiten, wo immer mehr Bürger den „Systemmedien“ und der „Lügenpresse“ misstrauen, wäre das ein gefährlicher Trend. War der „31 Jahre alte Mann aus Nizza“ vielleicht doch ein Flüchtling aus Syrien? Gab es womöglich Komplizen, die nicht erwähnt werden, um eine Panik zu vermeiden? Medien, die Ziele verfolgen, die ihrer Informationspflicht zuwiderlaufen, untergraben ihre Glaubwürdigkeit.
Eine Zensur, die dieser Selbstzensur gleichkommt, gab es auch in der Vergangenheit. Britische Radio- und TV-Stationen durften zwischen 1988 und 1994 Repräsentanten der nordirischen Partei Sinn Fein und anderer republikanischer Gruppen, die mit dem Terror der IRA in Zusammenhang standen, nicht zu Wort kommen lassen. Die Medienhäuser reagierten rasch und ließen die Statements der Verbannten von Schauspielern nachsprechen.
Noch ein Grund spricht gegen eine Beschränkung: Niemand glaubt, dass ein totales Blackout überhaupt möglich ist. Anstatt den Namen und das Foto des Täters in „Le Monde“ zu finden, wäre die Öffentlichkeit auf Kanäle wie Twitter angewiesen, wo die Propaganda des IS selbstverständlich den Weg in jeden Haushalt findet. Das kann niemand wollen. Auch die Glorifizierung besorgt der IS-Apparat problemlos selbst. Die Öffentlichkeit erfährt in den üblichen Medien von der Tat, dem Hergang und den Opferzahlen. Der IS steuert dann die Daten des Täters bei.
Aus diesen Gründen wird profil nichts an seiner Berichterstattung ändern. Eines werden wir bei jeder einzelnen Ausgabe – wie auch bisher – bedenken: Wie entgehen wir der Sensationslust, die uns allen innewohnt? Wie zeigen wir, was passiert ist, ohne die Barbarei zu bestärken?
Leider zwingt uns die Welt in letzter Zeit viel zu oft, über all das nachzudenken.