Robert Treichler: Gefährliche Stille

Robert Treichler: Gefährliche Stille

Mit den Rechten kann man nur hässliche Debatten führen. Ohne sie aber gar keine.

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Was tut eine Gesellschaft in Zeiten großer Not, umfassender Verwirrung und tiefer Zerwürfnisse? Wohin wendet sie sich, um Orientierungshilfe zu bekommen? Nachdem Götter, Heilige und ihre Vertreter auf Erden aus der Mode gekommen waren, galten kluge, belesene, moralisch denkende Menschen als anrufungswürdige Auskunftspersonen. Man nannte sie: die Intellektuellen.

So etwas hätten wir derzeit bitter nötig. Warum klappt es nicht? Die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“ warf den Intellektuellen im vergangenen April unter dem Titel „Gibt es gar nichts zu sagen?“ Schweigsamkeit angesichts des Rechtsrucks in der Gesellschaft vor. Stattdessen „reden und schreiben die anderen“, nämlich diejenigen, die man „wohl zu einer neuen intellektuellen Rechten zählen muss“, so die „Zeit“.

Es gibt sie noch, die Intellektuellen

Der Vorwurf, die Liberalen würden – aus Feigheit – schweigen, ist falsch. Es gibt sie noch, die Intellektuellen, und sie tun das, was sie immer getan haben.

Bernard-Henri Lévy geißelte Europa auf Twitter dafür, zuzusehen, wie dem Flüchtlingsrettungsschiff „Aquarius“ von Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerranée die Flagge entzogen wurde.

Die in Deutschland lebende österreichische Schriftstellerin Eva Menasse klagte in der Eröffnungsrede des Internationalen Literaturfestivals in Berlin in scharfen Worten Angriffe auf „demokratische Abläufe und Institutionen wie den Rechtsstaat“ an. Die destruktive Kraft der Empörten, die sich mit ihrem geklauten Schlachtruf „Wir sind das Volk“ für ermächtigt hielten, das alles zu zerschlagen, greife um sich wie Nervengift, sagte Menasse.

Der österreichische Schriftsteller Doron Rabinovici brachte (gemeinsam mit Florian Klenk von der Wiener Stadtzeitung „Falter“) das Theaterstück „Alles kann passieren“ ins Burgtheater, in dem er Reden europäischer Rechtspopulisten aneinandermontierte, um deren übereinstimmende Agenda zu entlarven.

Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Ja, die Intellektuellen tun das, was sie immer getan haben. Und doch kommen ihre Appelle nicht mehr da an, wo sie ankommen sollen: bei uns.

Der europaweite Rechtsruck hat auch rechte Intellektuelle hervorgebracht und diese ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.

Sie werden übertönt. Der europaweite Rechtsruck hat auch rechte Intellektuelle hervorgebracht und diese ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Soll man Martin Sellner, den Chef der österreichischen Identitären, als Intellektuellen bezeichnen? Seine Aktionen gegen Flüchtlingsrettungsschiffe im Jahr 2017 hatten jedenfalls größeres Echo und letztlich mehr Wirkung als der Gegenaufruf des Sängers Herbert Grönemeyer und 30 weiterer Künstler. Auch die „Gemeinsame Erklärung 2018“ von rechten deutschen Intellektuellen gegen „illegale Masseneinwanderung“ machte Furore.

Die rechten Intellektuellen nutzen ihre Stellung in der Öffentlichkeit ausschließlich dazu, bereits vorhandenes Volksempfinden respektive den Volkszorn zu verstärken. Die „Gemeinsame Erklärung 2018“ besteht auch nur aus einem Satz, der Solidarität mit den Anti-Migrations-Demonstranten bekundet. Keine Analyse, kein Abwägen von Werten. Es ist eine paradoxe Symbiose von Antiintellektualismus und intellektuellem Dekor.

Kein Austausch, kein Streit

Man könnte zum Zweck der moralischen Selbstbestätigung den rechten Denkern die Bezeichnung „Intellektuelle“ aberkennen, aber damit wäre nichts gewonnen. Zwischen den rechten und den liberalen Intellektuellen findet kein Austausch statt, auch kein Streit. Es fehlt ein Raum für solche Debatten. Die Zeitungen, die dafür taugen würden, schrecken davor zurück, den Rechten eine Plattform zu bieten. Die Anhänger der Rechten wiederum verachten diese Medien ohnehin.

Wo keine Debatte, da kein Publikum. Es wandert in die sozialen Netze ab, wo es inmitten hysterischer Aggressivität einen Schnellkurs in Hass absolviert. Die Mitte, die sich bis vor Kurzem von konservativen, progressiven und liberalen Intellektuellen ansprechen ließ, schrumpft. Diese Mitte sind wir (sonst würde ich hier nicht schreiben, und Sie würden es nicht lesen).

Das Ziel muss sein, diesen rechten Rand nicht noch größer werden zu lassen.

Die Schwierigkeit besteht darin, die Abtrünnigen, die aus dem Debattenraum geflohen sind, zurückzuholen; die Rechten, die geflohen sind, weil sie in den liberalen Medien kaum zu Wort kommen; und die Linken, die fliehen, sobald ebenda doch ein rechter Intellektueller etwas sagt. Alles andere hieße, den Debattenraum zu schließen, die liberalen Intellektuellen zu den Liberalen sprechen zu lassen und die rechten Intellektuellen via YouTube, Facebook und Twitter zu den Rechten.

Niemand wird den äußersten rechten Rand dazu bringen können, Bernard-Henri Lévy, Eva Menasse oder Doron Rabinovici zuzuhören. Aber das Ziel muss sein, diesen rechten Rand nicht noch größer werden zu lassen. Den Identitären Martin Sellner oder den rechtsnationalen Verleger Götz Kubitschek mit Interviewsperre zu belegen, erinnert an den Boykott von rechten Politikern wie Marine Le Pen. Es hat nichts gebracht, nur geschadet, und heute kommt man an der Vorsitzenden der (derzeit in den Umfragen wieder einmal) stärksten Partei Frankreichs nicht vorbei.

Die liberalen Intellektuellen werden wieder an Bedeutung gewinnen, wenn eine Debatte hergestellt ist. Warnung: Es wird unschöne Szenen geben.

[email protected] Twitter: @robtreichler

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur