Robert Treichler: Kamalas lange Reise

Herkunft? Geschlecht? Identität? Politik! Politik! Politik!

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Im Jahr 2011 wurde in Kalifornien ein umstrittenes Gesetz beschlossen: Eltern, deren  schulpflichtige Kinder den Unterricht wiederholt versäumen, drohen empfindliche Strafen. Schulschwänzer werden je nach Intensität in drei Kategorien unterteilt. Als schwerste Fälle  gelten die „chronischen Schwänzer“, die mehr als zehn Prozent des Unterrichts fernbleiben. Deren Eltern können – nach erfolglosen Versuchen, das Problem mittels Gespräch zu lösen – wegen eines Vergehens belangt werden. Beim ersten Mal wird eine Geldbuße von 100 Dollar verhängt, im Wiederholungsfall erhöht sich die Strafe auf bis zu 2000 Dollar – und ein Jahr Haft. Vertreter der afroamerikanischen Community protestierten gegen den Gesetzesvorschlag, den Tom Wilson, der Justizminister des Bundesstaates, eingebracht hat. Ihr Vorwurf: Es sei erwiesen, dass eine solche Strafe mehrheitlich Mitglieder der Minderheiten treffen würde. Doch der Einwand wurde ignoriert, das Gesetz trat in Kraft.


Wenn Sie bis hierher aufmerksam gelesen haben, bitte ich Sie, sich nun eine Meinung zu dem Gesetz und dessen Urheber Tom Wilson zu bilden. Ist er ein Politiker, von dem Sie sich wünschen, dass er mehr Macht im Staat bekommen soll? Die Frage beinhaltet – ich bitte dafür um Verzeihung – eine List. Das Schulschwänzer-Gesetz wurde tatsächlich wie eben beschrieben beschlossen, allerdings gab es damals in Kalifornien keinen Justizminister namens Tom Wilson, sondern eine Justizministerin namens Kamala Harris – die eben von Joe Biden zur Vizepräsidentschaftskandidatin gekürt wurde. Wie denken Sie jetzt über das Gesetz und dessen Urheber(in)? Genauso? Anders? Wozu die Irreführung? Glauben Sie bloß nicht, ich würde versuchen, Harris dadurch in irgendeiner Weise entlarven zu wollen. Im Gegenteil. Aber seit Harris am Mittwoch von Biden zur Vizepräsidentschaftskandidatin ausgerufen wurde, stehen fast ausschließlich ihre persönlichen Eigenschaften im Fokus und nicht ihre politischen Überzeugungen.


Die historische Dimension einer jamaikanisch-indischamerikanischen Frau als Kandidatin für  die Vizepräsidentschaft überstrahlt alles andere. Das ist verständlich, und die Freude darüber teilen nicht nur afroamerikanische und indischamerikanische Frauen, sondern wohl alle Menschen, die verstehen, welchen Fortschritt es bedeutet, dass Angehörigen von Minderheiten endlich der Weg in höchste Ämter offen steht. Es ist ein weiterer Schritt der einstigen Sklaverei-Nation in Richtung des immer noch fernen Endes der Diskriminierung der nicht weißen Bevölkerung. Jeder der Schritte ließ viel zu lange auf sich warten,keiner ist groß genug – aber die Nominierung von Kamala Harris ist ein bedeutender.


Harris und Biden standen einander als Konkurrenten im Vorwahlkampf gegenüber. Harris attackierte Biden, weil der sich in den 1970er-Jahren gegen die Methode ausgesprochen hatte, Kinder von Minderheiten per Bus zu Schulen in weißen Stadtteilen zu bringen, um ihre Integration zu fördern. „Ich war das kleine Mädchen“, das im Bus saß, klagte die heute 55-Jährige den 77 Jahre alten Biden an. Der wusste sich nicht zu verteidigen. Jetzt war er es, der entschied, dass die unglaubliche Reise des kleinen Mädchens bis ins Weiße Haus führen kann. Ja,möglicherweise auch ins höchste Amt, denn Vize eines Mannes zu werden, der die statistische Lebenserwartung eines männlichen US-Bürgers bereits überschritten hat, wäre – ohne pietätlos sein zu wollen – mehr als eine formelle Stellvertretung.


Jetzt muss das Duo Biden/Harris, wie Ex-Präsident Barack Obama es formuliert hat, „das Ding gewinnen“. Und dieser Job verlangt mehr als eine fortschrittliche Zusammensetzung, was Ethnien und Geschlechter des Tickets betrifft.


Zurück zu dem Beispiel des Gesetzes gegen das Schulschwänzen: Kamala Harris argumentierte damals als Justizministerin von Kalifornien, warum sie die Strafdrohung gegen Eltern als notwendig erachtete, auch wenn dies unter anderem verstärkt Afroamerikaner treffe:„Wir wissen, dass chronisches Schulschwänzen zum Schulabbruch führt, und das wiederum steigert auf dramatische Weise die Gefahr, dass diese junge Person zum Verbrecher oder zu einem Verbrechensopfer wird.“ Ein Versuch in San Francisco habe gezeigt, dass die Androhung der Strafverfolgung das Schulschwänzen um mehr als 30 Prozent verringerte.


Das ist bloß ein kleines Beispiel aus Harris’ langer politischer Karriere, aber es zeigt, wie sie politisch vorgeht: pragmatisch mehr denn ideologisch. Biden und Harris gelten als „moderate“ – heißt: nicht dem linken Flügel zugehörige – Demokraten. Sie müssen bis zum Wahltag am 3. November die Wählerinnen und Wähler davon überzeugen, dass ihre politischen Ideen für die USA die besten sind. Harris’ Performance als Präsidentschaftskandidatin war mittelmäßig, jetzt braucht es einen großen politischen Wurf.


Die erste weibliche People-of-colour-Kandidatin zu sein, genügt nicht. Ebenso wenig, wie es Hillary Clinton genügte, die erste weibliche Präsidentschaftskandidatin zu sein. Zur Erinnerung: Der Anteil der weißen Frauen, die 2016 Donald Trump ihre Stimme gaben, war höher als der, die Hillary Clinton wählten.

robert.treichler@profil

Twitter: @robtreichler

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Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur