Robert Treichler

Robert Treichler: Kann eine Frau einen Penis haben?

Eine Geschlechterrevolution ist im Gange. Sie ist fortschrittlich, aggressiv geführt – und nicht zu Ende gedacht.

Drucken

Schriftgröße

Ist es ein Bub oder ein Mädchen? So lautet automatisch die erste Frage im Freundeskreis, wenn ein Kind zur Welt gekommen ist.  Das Geschlecht ist auch das erste Merkmal, das Eltern dank der Ultraschalluntersuchung über ihr Kind erfahren, wenn es noch im Mutterleib ist. Es stellt eine grundlegende Determinante eines Menschen dar, keine Personenbeschreibung kommt ohne diese Kategorie aus. Frau zu sein, Mann zu sein, berührt das Innerste in uns.

Jetzt ist eine Revolution im Gange, die alle Gewissheit, die wir über das Wesen des Geschlechts zu besitzen glauben, infrage stellt: Wie viele Geschlechter gibt es? Woran kann man sie erkennen? Oder, konkreter: Kann eine Frau einen Penis haben? Kann ein Mann ein Kind bekommen? Kann jemand sein Geschlecht wechseln, ohne sich körperlich zu verändern? Glauben Sie bloß nicht, das seien Hirngespinste, die Sie nichts angingen. In Deutschland und Spanien gelten demnächst Gesetze, die es jedem Bürger und jeder Bürgerin erlauben, das Geschlecht mittels eines bloßen Antrags – und völlig unabhängig von biologischen Gegebenheiten – zu wechseln.

Es ist eine historische Wende: Entscheidend für die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen ist nicht mehr sein Körper, sondern sein subjektives Empfinden. Die Geschlechteridentität – Gender – übertrumpft die Anatomie. Die eingangs gestellte Frage, ob eine Frau einen Penis haben kann, ist damit rechtlich eindeutig beantwortet: Ja. Mehr noch: Sie braucht sich körperlich in nichts von einem Mann zu unterscheiden, nicht hormonell und schon gar nicht optisch, und kann dennoch behördlich beglaubigt eine Frau sein – wenn sie sich so fühlt.

Dieses „Selbstbestimmungsgesetz“, wie es in Deutschland von der Regierung genannt wird, verfolgt die Absicht, Transsexuellen einen Weg zu ihrer empfundenen Geschlechteridentität zu eröffnen, ohne dass sie sich unangenehmen Untersuchungen und Befragungen unterziehen müssen. Man kann diese Form der Selbstbestimmung als radikal liberales Konzept ansehen: Der Staat überlässt es seinen Bürgern, ihr Geschlecht zu definieren, ohne sich einzumischen.

Selbstbestimmung als radikal liberales Konzept: Der Staat überlässt es seinen Bürgern, ihr Geschlecht zu definieren, ohne sich einzumischen."

Das Motiv dahinter ist das Bestreben, Diskriminierungen wegen der Geschlechteridentität aus der Welt zu schaffen, und zwar gerade für jene Gruppen, die davon am meisten betroffen sind: Transsexuelle, Intersexuelle, Transgender … Wie wichtig der Kampf gegen Diskriminierung ist, zeigt das Interview mit der transsexuellen Sängerin Sam Taskinen auf Seite 70.

Allerdings fühlen sich viele Leute von dieser Entwicklung überfordert. Die Vorstellung, dass man seine Geschlechtszugehörigkeit umstandslos ändern kann, rüttelt am Fundament des traditionellen Menschenbildes. Was meint der Begriff „Geschlecht“, wenn er von seiner ursprünglichen Bedeutung – der Fähigkeit zur Fortpflanzung mittels Eizelle und Samenzelle – abgekoppelt wird? Geschlechteridentitäten sind etwas ganz anderes als Geschlechter, man kann sogar zwischen ihnen hin- und herwechseln, auch das ist im Selbstbestimmungsgesetz vorgesehen.

Aber bloß weil der Gedanke einer Umdeutung des Geschlechterbegriffs zunächst verstörend sein mag, soll man ihn nicht gleich ablehnen. Noch vor wenigen Jahrzehnten galt die Idee, Homosexualität zu legalisieren, als exzentrisch, und homosexuellen Paaren die Ehe und die Adoption zu erlauben, ist eine Entwicklung der allerjüngsten Vergangenheit.

Doch die aktuelle Geschlechterrevolution hat noch viel weiter reichende Konsequenzen als nur das mulmige Gefühl, dass uns ein altvertrauter Begriff abhandenkommt. Abgesehen davon, dass die Geschlechterzuschreibung von der biologischen Realität getrennt wird, gibt es auch noch weitere Geschlechter. Offiziell ein drittes, nämlich: divers. So können sich Personen bezeichnen, die sich weder als Mann noch als Frau klassifizieren wollen. Dazu kommen noch Zuschreibungen auf Basis von sexuellen Orientierungen (lesbisch, schwul, asexuell), nur vage definierte Identitäten wie „queer“, und schließlich ein „*“ für jene, die sich in keiner der angebotenen Geschlechteridentitäten wiederfinden. So weit, so bunt, respektive verwirrend. Die geradezu libertäre Herangehensweise soll Diskriminierungen beseitigen und alle frei machen – doch sie führt schließlich zu Konflikten.
Die sind nicht ganz einfach zu verstehen, wenn man mit der Denkweise der Geschlechteraktivisten nicht vertraut ist. Einer der Konflikte dreht sich um die Verwendung des Wortes „Frau“. Feministinnen (deren Bezeichnung sich nicht zufällig von „femina“, dem lateinischen Wort für Frau ableitet) protestieren etwa dagegen, dass die kürzlich vom Supreme Court der USA getroffene Entscheidung, das Recht auf Abtreibung aufzuheben, die Rechte der Frauen mit Füßen trete. Da treten Geschlechteraktivistinnen auf den Plan und werfen den Feministinnen vor, dass der Begriff „Frau“ diskriminierend sei, weil er außer Acht lasse, dass auch Transsexuelle, die sich nicht als Frauen definieren, vom Abtreibungsverbot betroffen seien. Der Begriff „Frauen“ müsse deshalb durch Formulierungen wie „menstruierende Personen“ oder „gebärende Personen“ ersetzt werden.

Falls Sie jetzt ungläubig den Kopf schütteln, besuchen Sie die Websites amerikanischer Pro-Abtreibungs-Organisationen. Sie finden dort jede Menge Beispiele für genderneutrale Sprache, aber keine Erwähnung von „Frauen“.
Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass der Kampf gegen Diskriminierung zuweilen in Sektierertum umschlägt. Frauen unter dem Überbegriff „menstruierende Personen“ einzuordnen, klingt wie eine Zote aus dem Repertoire von Donald Trump. Dass dies im Namen einer behaupteten „Gendergerechtigkeit“ geschieht, macht die Sache gänzlich abstrus. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Der Geschlechteraktivismus entwickelt Züge, die man aus Religionskriegen kennt. Wer von den Glaubenssätzen oder auch nur der verordneten Terminologie abweicht, wird der Häresie beschuldigt und gilt als „transphob“.

Tatsächlich haben Frauen durchaus berechtigte Sorgen bei dem Gedanken daran, dass sie mit Personen begrifflich ununterscheidbar gemacht werden sollen, die sich als Frauen definieren, dabei aber über männliche Geschlechtsteile verfügen. Werden diese Personen dann auch in Frauenhäuser aufgenommen, in Frauengefängnissen inhaftiert? Dürfen sie an sportlichen Wettkämpfen für Frauen teilnehmen, auch wenn ihre körperliche Überlegenheit unübersehbar ist?
Die deutsche Bundesregierung bleibt etwa zur Frage der Frauenhäuser vage: „Über die Aufnahme in ein Frauenhaus entscheidet das Team der Einrichtung. Eine Verpflichtung der Einrichtung zur Aufnahme einer bestimmten Person besteht nicht.“

Die Geschlechterrevolution bewegt sich in Richtung einer Utopie, die niemand zu Ende gedacht hat. Was harmlos mit einem Binnen-I zur Sichtbarmachung der Frauen begonnen hat, endet mit der Streichung des Wortes „Frau“, um die Transsexuellen nicht zu kränken.

Einerseits werden neue Geschlechterkategorien abseits der biologischen eingeführt, um allen Identitäten gerecht zu werden, andererseits finden sich biologische Frauen in derselben Kategorie mit biologischen Männern wieder.
Während diskriminierten Geschlechtern „safe spaces“ zugestanden werden, um sich ohne Anwesenheit von Männern austauschen zu können, sollen Frauen gegen biologische Männer, die sich als Frauen definieren, bei sportlichen Wettkämpfen in derselben Kategorie antreten.

Derzeit erleben wir eine heillose Überbetonung der Bedeutung von Geschlechteridentitäten."

Betrieben wird die Geschlechterrevolution von einer kleinen Minderheit, die erstaunlich großen politischen Einfluss hat. Das ist zwar legitim, besser jedoch wäre eine große gesellschaftliche Debatte darüber, wie Geschlechter politisch und rechtlich in Zukunft behandelt werden sollen.

Derzeit erleben wir eine heillose Überbetonung der Bedeutung von Geschlechteridentitäten. Während die emanzipatorische Kraft der Frauenbewegung darin bestand, behauptete Unterschiede zwischen Männern und Frauen nach und nach zu widerlegen, geht die Tendenz jetzt bedauerlicherweise oft in eine andere Richtung: Jeder identitäre Unterschied wird zelebriert wie ein Stammeszeichen in vormodernen Gesellschaften. Das schafft Grenzen statt Gleichberechtigung.

Eine liberale Gesellschaft sollte in der Lage sein, unterschiedliche Lebensweisen – und unterschiedliche Einstellungen – zu akzeptieren und gleichzeitig überflüssige Lagerbildung zu vermeiden. Gut möglich, dass die gelebte Geschlechteridentität im Alltag und in unseren Köpfen immer häufiger vom biologischen Geschlecht getrennt werden kann. Doch wieso sollte es eine Diskriminierung darstellen, wenn das biologische Geschlecht überall dort berücksichtigt wird, wo es eine Rolle spielt?
Die Geschlechteridentität wird einem nicht mehr schicksalhaft in die Wiege gelegt. Selbstbestimmung ist ein Fortschritt. Die Antwort auf die Frage „Ist es ein Mädchen oder ein Bub?“ wird komplexer. Biologisch eindeutig, Geschlechtsidentität: abwarten.

 

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur