Robert Treichler: Letzter Aufruf

150 Intellektuelle verteidigen die Redefreiheit gegen die moralisch hochwertigsten Einwände in der Geschichte der Zensur.

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Ist das jetzt wirklich so wichtig? Sie lesen hier den nun schon dritten Kommentar in profil, der sich innerhalb weniger Wochen mit der Rede- und Meinungsfreiheit beschäftigt. Nun, ich fürchte, es muss sein. Die westliche Öffentlichkeit ringt um einen ihrer Grundwerte. Und anders als in vielen Fragen, die sonst noch die Welt beschäftigen, sind wir - Sie und ich - dabei nicht nur interessierte Zuseher, sondern Akteure. Unsere Kommentare, Postings und Likes sind Teil der Debatte. Verteidigen wir die Möglichkeit, dass auch unliebsame Meinungen geäußert werden können-oder kämpfen wir dagegen an? Wie bedeutsam dieser Konflikt geworden ist, zeigt ein Aufruf, den 150 Intellektuelle - darunter Weltstars wie J. K. Rowling, Margaret Atwood, Martin Amis, Salman Rushdie, Noam Chomsky, Wynton Marsalis und auch der Österreicher Daniel Kehlmann - vergangene Woche weltweit in mehreren Zeitungen veröffentlichten. Sie beklagen darin ein Klima zunehmender Intoleranz und zählen auf: Redakteure verlieren ihren Job, weil sie umstrittene Texte ins Blatt rücken, Forscher werden gefeuert, weil sie unliebsame Studien promoten, Verlage ziehen provokante Bücher wegen unbewiesener Vorwürfe gegen den Autor zurück. Das Ergebnis solcher Vorfälle sei, dass "die Grenzen dessen, was ohne Angst vor Repressalien gesagt werden kann, stetig enger" geworden seien, so die 150 Intellektuellen. Sie versuchen, die Rede- und Meinungsfreiheit gegen die scheinbar moralisch hochwertigsten Einwände aller Zeiten zu verteidigen: Antirassismus, Antisexismus, Antidiskriminierung, Minderheitenschutz.

Zwei unvereinbare Vorstellungen, wie Debatten funktionieren sollen, prallen dabei aufeinander. Die liberale Konzeption, die auch von den 150 Unterzeichnern vertreten wird, geht davon aus, dass Standpunkte vorgetragen werden dürfen und dass dabei Toleranz gegenüber gedanklichen Experimenten, riskanten Äußerungen und auch Fehlern geübt werden soll. Was zum Beispiel als sexistisch, rassistisch oder politisch falsch gilt, ist Gegenstand einer offenen Debatte - an deren Ende auch nicht eine unwiderruflich richtige Meinung steht. Das Gegenmodell verlangt hingegen vorab deutliche Einschränkungen, denn bereits eine falsche Äußerung wird als Unrecht gegenüber einer bestimmten Gruppe gewertet, der damit zunächst verbale Gewalt angetan werde. In weiterer Folge führe dies zu realer Gewalt. Deshalb müssten zweifelhafte oder abzulehnende Ansichten aus Zeitungen und sozialen Medien eliminiert werden-und die Personen, die derartige Äußerungen tätigen oder auch nur zu deren Veröffentlichung beitragen, hätten sich für die Teilnahme an der öffentlichen Debatte disqualifiziert. Sie müssen raus. "cancel culture" nennt man das.

Vertreter dieser neuen Debattenkultur bestreiten nicht, dass sie die Grenzen des öffentlich Sagbaren enger ziehen wollen; auch nicht, dass sie manchen Meinungsträgern das Recht auf eine Teilnahme am Diskurs entziehen wollen. Dies stelle keine ungebührliche Einschränkung der Redefreiheit dar, denn bisher habe ohnehin die mächtige Gruppe der weißen, männlichen Elite mitsamt ihren diskriminierenden Ansichten die Debatte dominiert.

Kämpfe um politische und kulturelle Hegemonie hat es immer gegeben. Das Neue an diesem Konflikt ist, dass es nicht nur darum geht, bisher nicht gehörte Stimmen auf die öffentliche Bühne zu bringen, sondern auch gleich die Gegenstimmen per Reglement abzudrehen. Der Debattenraum wird gesäubert und verengt.

Doch auch im Namen des Anti-Rassismus werden gelegentlich die Regeln der Achtsamkeit und der verbalen Gewaltfreiheit verletzt. Kürzlich veröffentlichte Hengameh Yaghoobifarah, eine Kommentatorin der deutschen Zeitung "taz",unter dem Titel "All cops are berufsunfähig" eine wüste, satirisch gemeinte Abrechnung mit der deutschen Polizei und empfahl den "Cops" eine Mülldeponie als einzig adäquaten Ort für ihr weiteres Dasein. Die nichtbinäre (also weder ausschließlich männliche noch weibliche) Person und "Person of Color" war einem Shitstorm ausgesetzt, erhielt Drohungen und musste mit einer Anzeige durch Innenminister Horst Seehofer rechnen. Allesamt überzogene Reaktionen.

Nein, der Text musste nicht gelöscht werden, Yaghoobifarah schreibt weiterhin Kommentare für die "taz", und Seehofer nahm von einer Anzeige Abstand, weil er einsehen musste, dass diese erstens rechtlich aussichtslos und zweitens politisch ein bedenklicher Akt gewesen wäre.

War der Text "All cops are berufsunfähig" beleidigend? Für Polizisten bestimmt. War er verbal aggressiv? Auch. War die darin geäußerte Meinung riskant oder sogar ein Fehler? Kann man so sehen.

Aber das Entscheidende bleibt: All das ist gedeckt durch die Rede-und Meinungsfreiheit. Diese schützt manchmal vor einer empörten Obrigkeit und einem zornigen Minister, gelegentlich vor einer reaktionären Kirche und neuerdings eben auch vor fundamentalistischen Achtsamkeitsdogmatikern.

Und ja, das ist verdammt wichtig

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Twitter: @robtreichler

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur