Robert Treichler: Links versus links

Hoffentlich verfolgt Christian Kern das Schlamassel von François Hollande.

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Frankreich verfügt über eine stolze Liste an immateriellen Kulturgütern, die von der Unesco als Weltkulturerbe anerkannt werden: die Feuerfeste zur Sommersonnenwende in den Pyrenäen, die Drachenprozessionen der Ducasse de Mons, die Wandteppichknüpfkunst in Aubusson und viele mehr. Eine alte, aber bis heute lebendig gebliebene Tradition fehlt in dieser Liste allerdings: der Versuch, eine Regierung zu stürzen, die sich bemüht, sinnvolle Reformen durchzuführen. Dieser Brauch verbindet farbenfrohe Aufmärsche, archaischen Volkszorn, pathetische Schwüre und politische Starrsinnigkeit zu einem landesweiten Ausnahmezustand.

Zur Zeit wird das Schauspiel mit besonderer Hingabe dargeboten: Gewerkschafter blockieren Raffinerien, um das Land von der Kraftstoffzufuhr abzuschneiden. Vergangene Woche herrschte bereits an rund einem Drittel der Tankstellen im ganzen Land Benzinknappheit. Am Donnerstag konnten wegen einer unangekündigten Blockade die großen, landesweit erscheinenden Zeitungen nicht gedruckt und verteilt werden. Ab kommendem Donnerstag werden die Pariser Verkehrsbetriebe unbefristet bestreikt. Der Plan: Die Regierung soll gezwungen werden, das von ihr beschlossene neue Arbeitsgesetz zurückzunehmen. Tut sie das, wäre sie wohl endgültig rücktrittsreif.

Wie interpretiert eine linke Regierung Gerechtigkeit?

Dasselbe Ritual erlebten zuletzt die Regierungen Balladur (1994) und Villepin (2005 und 2006), ebenfalls, weil sie das Arbeitsrecht zu liberalisieren versuchten. Diesmal jedoch ist die Situation weit über Frankreich hinaus von Interesse, und das hat einen schnöden und einen politischen Grund: Der schnöde ist die Sorge darüber, dass die Fußball-Europameisterschaft, die am 10. Juni in Paris beginnt, empfindlich gestört wird, wenn der öffentliche Verkehr lahmgelegt wird, das Benzin alle ist und weitere Dienstleistungen und Güter von rabiaten Regierungsgegnern verknappt werden.

Der politische Grund ist eine grundsätzliche Frage: Wie interpretiert eine linke Regierung Gerechtigkeit?

Den konservativen Vorgängerregierungen, die ihre Arbeitsrechtsreformen nach Protesten zurückziehen mussten, unterstellten die Gewerkschaften, als Büttel der Arbeitgeber die Arbeitnehmerrechte auszuhöhlen. Der amtierende sozialistische Staatspräsident François Hollande und seine ebenfalls sozialistische Regierung hingegen beteuern, mit dem neuen Gesetz die Arbeitnehmer dadurch schützen zu wollen, dass sie es den Unternehmern erleichterten, mehr Menschen anzustellen. Dazu allerdings werden liebgewonnene Sicherheiten zur Disposition gestellt. Betriebe können leichter aus wirtschaftlicher Notwendigkeit Kündigungen vornehmen und die 35-Stunden-Woche wegverhandeln, Löhne können von Unternehmen und Gewerkschaften individuell vereinbart werden statt für die ganze Branche.

Der Grund für die Reform: In Frankreich bekommen Neuangestellte kaum noch unbefristete Verträge, weil die Unternehmen fürchten, die Mitarbeiter bei schlechter Auftragslage nicht mehr loszuwerden. Die Beschäftigungsverhältnisse sind prekär, die Arbeitslosenrate ist dauerhaft hoch. Soll eine linke Regierung wohlerworbene Rechte von Arbeitnehmern reduzieren, um anderen den Einstieg in die Arbeitswelt zu ermöglichen und gleichzeitig der Wirtschaft zu helfen?

Sozialdemokratische Regierungschefs können aus dem französischen Schlamassel lernen

Linke Gewerkschaften wie die den Kommunisten nahestehende CGT toben. Sie sehen in dem Reformvorhaben einen sozialen Rückschritt. Ein moderater Sozialdemokrat wie Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi hingegen hat vor zwei Jahren gegen erbitterten Widerstand eine ähnliche Arbeitsmarktreform durchgeboxt und sie mit den Worten „mehr Schutz, Solidarität, Jobs“ in Twitter-Kürze zusammengefasst. 2015 sank die Arbeitslosenrate in Italien erstmals seit sieben Jahren.

Warum schaffen es Hollande und sein Premier Manuel Valls nicht, die Mehrheit der Franzosen von der Notwendigkeit des Gesetzes zu überzeugen? Der Präsident hat viel falsch gemacht. Ein so heikles Gesetzesvorhaben lediglich ein Jahr vor dem Ende seiner Amtszeit einzubringen, ist verdammt spät. Die eklatanten Misserfolge seit 2012 haben Hollande zudem unbeliebt gemacht und heillos geschwächt. Seine linken Wahlversprechen – Reiche belasten, Pensionsalter senken, Austerität kippen, Wirtschaft ankurbeln, Arbeitslosigkeit senken – floppten. Damit war die Autorität dahin, und der Kurswechsel vermittelte den Eindruck von Panik. Im Parlament schaffte es die Regierung nun nicht einmal, eine eigene Mehrheit für das neue Gesetz zustandezubringen. Sie musste den Text mittels einer Sonderbestimmung in der Verfassung ohne Abstimmung durchpeitschen.

Der Gesetzestext ist mittlerweile verwässert, weitere Änderungen werden erwartet, und es ist gut möglich, dass am Ende wenig von der Reform übrig bleibt. Sozialdemokratische Regierungschefs können jedoch aus dem französischen Schlamassel lernen. Hollande hat es verabsäumt, frühzeitig seine Absichten klarzumachen und zu erklären, weshalb die Beschneidung mancher Rechte als Akt der Solidarität angesehen werden soll und nicht als neoliberaler Anschlag. Stattdessen habe er die Missgeschicke zur Regierungsmethode gemacht, spottet die Tageszeitung „Le Figaro“. So könne man kein Land führen. Hoffentlich liest Christian Kern den „Figaro“.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur