Robert Treichler: Die 500-Milliarden-Euro-Frage

Welche Europäische Union wollen wir? Die von Kurz oder die von Merkel?

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Es gibt viele Möglichkeiten, ein historisches Ereignis zu verkünden. Eine der originellsten ist zweifellos, es umständlich in ein sechs Seiten langes Papier zu texten, dieses mit dem eher unaufwühlenden Titel "Initiative zur wirtschaftlichen Erholung Europas nach der Krise" zu versehen und an einem Montagabend im Rahmen einer Video-Pressekonferenz vorzustellen.

Doch historische Ereignisse überwinden selbst so was, und als Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron und Deutschlands Bundeskanzlern Angela Merkel ihre Präsentation beendet hatten, war die Bombe geplatzt: Frankreich und Deutschland, die beiden größten Staaten der Europäischen Union, schlagen vor, die EU solle Schulden aufnehmen, um den Mitgliedsstaaten, die wirtschaftlich besonders unter der Coronavirus-Krise leiden, unter die Arme zu greifen. Geplantes Volumen: 500 Milliarden Euro.

Das gab es noch nie. Bisher galt, dass die EU keine gemeinsamen Schulden macht und EU-Staaten nicht füreinander haften. Es war ein Tabu, und einer der Staaten, die über dessen Einhaltung wachten, war: Deutschland. Dass nun Angela Merkel im 15. Jahr ihrer Amtszeit als Kanzlerin mit dieser Regel bricht - wenn auch zeitlich befristet für den Krisenfall-, ist eine Sensation und kann tatsächlich historische Folgen haben: Auf diese Weise innerhalb der EU Umverteilung zu betreiben, würde die Europäische Union in ein noch engeres Bündnis verwandeln.

Die Motivation dahinter ist leicht erklärt: weil ein gemeinsamer Wirtschaftsraum mit einer gemeinsamen Währung und einem gemeinsamen politischen Rahmen in der größten Rezession seiner Geschichte das allergrößte Interesse daran hat, dass alle seine Mitglieder die Krise so gut wie möglich überstehen. Manche Staaten oder Regionen sind schwerer von der Pandemie und dem durch sie ausgelösten Wachstumseinbruch betroffen, manchen fehlen die Mittel, um ausreichende Investitionen zu finanzieren. Gemeinsam aufgenommene Schulden bedeuten geringere Zinsen und verhindern ein Hochschnellen des Schuldenstands der schwächeren Staaten.

Konkret heißt das, dass die EU-Kommission 500 Milliarden Euro an den Finanzmärkten holt und einen größeren Teil davon zum Beispiel Italien und Spanien gibt, wobei wirtschaftlich stärkere Staaten wie etwa Deutschland und Österreich mehr zur Rückzahlung der Schulden beitragen müssen.

Wieso tut Merkel das? Oder, wie die deutsche Tageszeitung "Bild" fragt: "Warum zahlen wir 500 Milliarden Euro?"

Merkel weiß, dass der Wohlstand der Exportnation Deutschland wesentlich davon abhängt, dass sich ganz Europa wirtschaftlich rasch erholt. Nettozahler zu sein heißt nicht nur, wohltätig Geld zu verteilen -es heißt auch, auch eigennützig seine künftigen Einnahmen zu sichern.

Die Idee der 500 Milliarden ist, Konjunkturbelebung zu finanzieren, also den Markt wiederherzustellen. Das Geld muss gemäß festgelegten Regeln in diesem Sinne verwendet werden, also nicht etwa, um in den Empfängerstaaten aufgeblähte Sozialsysteme zu finanzieren.

Der Widerstand der vier Reichen wird nicht leicht durchzuhalten sein.

Doch während Merkel seit Montag zum gemeinsamen Schuldenmachen bereit ist, verteidigen andere das alte Tabu immer noch. Die geschrumpfte Gruppe besteht aus Österreich, den Niederlanden, Dänemark und Schweden, und ihr Wortführer ist Bundeskanzler Sebastian Kurz. Das einigende Merkmal der vier ist, dass sie neben Deutschland zu den potentesten Nettozahlern gehören.

Europa erlebt also kein Match zwischen Vertretern linker und rechter Wirtschaftstheorien. Macron ist Liberaler, Merkel eine Konservative, ebenso wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und die Präsidentin der Europäischen Zentralbank Christine Lagarde, die allesamt den 500-MilliardenPlan befürworten. Auf der anderen Seite weiß der Konservative Kurz die sozialdemokratisch geführte schwedische Regierung auf seiner Seite.

Die Gegner des Macron-Merkel-Plans wollen ihre Steuerzahler davor bewahren, im Krisenfall europäische Umverteilung zu finanzieren. Kurz hat angekündigt, ein Gegenmodell vorlegen zu wollen (bis Redaktionsschluss war der konkrete Vorschlag nicht bekannt). Er will statt geschenktem Geld bloß Kredite vergeben, die von den Empfängerstaaten selbst zurückgezahlt werden müssen. Am Ende ist der Nationalstaat allein für sich verantwortlich, europäische Solidarität ist auf mehr oder weniger günstige Kredite beschränkt.

Der Widerstand der vier Reichen wird nicht leicht durchzuhalten sein, nachdem mit Deutschland der bisher größte Verfechter nationalstaatlicher Zugeknöpftheit die Seiten gewechselt hat. Die europäische Umverteilungsidee ist attraktiver geworden. Die Pandemie hat gezeigt, wie verwundbar die Union ist. Zusammenzuhalten und die Kluft zwischen dem reichen Norden und dem ärmeren Süden in der Krise nicht bedrohlich größer werden zu lassen, entspringt ökonomischer Vernunft - und nicht zuletzt auch politischer Klugheit. Antieuropäische Populisten in Südeuropa leben davon, dass sie die EU als knausrigen Club verteufeln können, der sich nicht um seine schwächeren Mitglieder schert.

Wenn Merkel es im letzten Jahr vor ihrem Abtreten als Kanzlerin schafft, das reiche Europa mit dem weniger reichen zu versöhnen, bin ich für die Einführung der Raute als europäisches Zeichen des Grußes.

[email protected] Twitter: @robtreichler

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur