Nehammers Zaun
Zaun oder nicht Zaun? Das war eine halbe Woche lang die Frage aller Fragen in der europäischen Migrationspolitik, jedenfalls aus der Perspektive eines österreichischen Bundeskanzlers, dessen Volkspartei den stattlichen Umfragebalken der FPÖ von schräg unten bestaunen muss. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe prinzipiell nichts gegen Grenzzäune, solange sie nicht dazu dienen, dort rechtswidrig Zurückweisungen ohne Asylverfahren (sogenannte „Pushbacks“) durchzuführen. Karl Nehammer hat auch recht, wenn er von einer „Migrationskrise“ spricht, denn wenn in einem Jahr 110.000 Asylwerber in Österreich aufschlagen, von denen die meisten in keinem der Länder, durch das sie gereist sind, registriert wurden, dann muss ein Kanzler nervös werden. Nehammer schnaubt zu diesem Thema gern den Satz: „Das europäische Asylsystem ist gescheitert.“ Ist es das?
Zunächst ein Lob: Auch wenn immer wieder skandalöse Vorkommnisse bekannt werden (Frontex-Pushbacks, unzumutbare Zustände auf Lesbos, Menschenrechtsverletzungen in Ungarn, Anlegeverbote für Flüchtlingsschiffe in Italien …), muss man der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten bescheinigen, dass sie generell mit Migranten menschlich umgehen, und gerade Österreich agiert in vielerlei Hinsicht korrekt. Asylwerber werden grundversorgt und haben Zugang zu rechtsstaatlichen Verfahren.
Die Kanzlerpartei hat das gute Recht, darauf hinzuweisen, wenn etwas im Argen liegt: Im Vergleich mit anderen EU-Staaten stranden zu viele Asylwerber in Österreich. Zudem häufen sich Anträge von Leuten, die nicht im Entferntesten Asylgründe glaubhaft machen können, etwa Migranten aus Tunesien, Indien oder Marokko.
Die traurige Wahrheit ist, dass sich die Migrationsströme immer wieder verlagern, und seit Monaten steigen die Zahlen eben vor allem entlang der Balkanroute. Das ist Pech für Österreich, aber ist es auch ein Beweis dafür, dass das europäische Asylsystem gescheitert ist?
Ja, bloß sollte sich Kanzler Nehammer die Zusatzfrage stellen, wie groß der Anteil der ÖVP an diesem Scheitern ist.
Wie sähe denn die logische Lösung des Problems aus, dass sehr viele Menschen in die Europäische Union drängen und einzelne Staaten – wie Österreich und Deutschland – überproportional davon betroffen sind? Richtig, es braucht ein gemeinsames europäisches Asylsystem, mit einheitlichem Recht und der gerechten Verteilung der Lasten. Wenn Massen von Migranten in Lampedusa anlanden, sollte nicht Italien für alle verantwortlich sein, wenn sie von der türkischen Küste nach Lesbos übersetzen, sollte nicht Griechenland allein damit fertig werden müssen, und wenn sie am Landweg nach Österreich strömen, sollte nicht unser Acht-Millionen-Einwohnerland alle aufnehmen müssen. Diese Vorschläge gibt es längst, Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron trug sie 2017 in einer Rede an der Pariser Sorbonne vor.
Gerade jetzt wäre eine Quotenregelung sehr im Sinne Österreichs.
Doch aus den Plänen wurde nichts, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sich Regierungschefs wie Ex-Kanzler Sebastian Kurz und andere hartnäckig gegen jeglichen Verteilungsmechanismus sträubten. Noch im Sommer 2015 hatte Kurz als Außenminister eine EU-Quotenregelung gefordert. Erst nach seinem Schwenk nach rechts, als er sich als „Anti-Merkel“ positionierte, vertrat er die Linie, dass Österreich niemals freiwillig auf Basis von Quoten Flüchtlinge aufnehmen würde.
Tja, gerade jetzt wäre eine Quotenregelung sehr im Sinne Österreichs. Die Europäische Union, ein hoch entwickelter Wirtschaftsraum mit 450 Millionen Einwohnern, kann die Zahl an Flüchtlingen, die für ein Land wie Österreich enorm scheint, locker absorbieren.
Das heißt nicht, dass der Grenzschutz überflüssig wäre. Wenn sich irgendwo große Lücken zeigen, die Migranten anlocken, soll man sie schließen. Aber es ist allen Experten klar, dass auch die besten Zäune die Migrantenströme bestenfalls umleiten. Nehammer weiß das natürlich, schließlich hat sein Vorvorgänger Kurz die Balkanroute auch schon einmal geschlossen.
Die beste Methode, um Migrantenströme zu reduzieren, bleiben Abkommen mit den Herkunftsländern. Wenn die EU respektive ihre Mitgliedsländer Staaten wie Tunesien oder Marokko großzügige Angebote machen, dass ihre Bürgerinnen und Bürger Arbeitsvisa für die EU bekommen, dann können sie im Gegenzug Maßnahmen ergreifen, um illegale Migration einzudämmen und abgelehnte Asylwerber zurückzunehmen. Das vorbildhafte Abkommen, das Österreich ebenso wie Deutschland und andere EU-Staaten kürzlich mit Indien geschlossen hat, beinhaltet genau das.
Die Verhandlungen der EU-Kommission über Rückführungsabkommen ziehen sich seit Jahren, weil die EU den Verhandlungspartnern keine attraktiven Gegenleistungen anbieten kann. Konkret: Möglichkeiten der legalen Zuwanderung. Alle EU-Mitgliedstaaten müssten sich bereit erklären, eine ausreichend hohe Zahl von Migranten regulär ins Land zu lassen. Es wäre die Aufgabe aller Regierungen, auch die von Kanzler Nehammer, der Öffentlichkeit klarzumachen, dass es vernünftig ist, unsere Grenzen für mehr legale Zuwanderung zu öffnen, weil so die illegale reduziert werden kann.
Zugegeben, das zu erklären, ist schwieriger, als die vermeintlichen Vorteile eines Zauns zu preisen.