Robert Treichler: Nie wieder Volksparteien!
iTunes, das Medienverwaltungsprogramm von Apple, war mal revolutionär, aber zuletzt stand das veraltete Ding eher sperrig nötigen Veränderungen im Weg und vergraulte die User.
Bitte lesen Sie den ersten Satz noch einmal und ersetzen Sie iTunes durch die SPD!
Tja, iTunes wurde vergangene Woche auf der Apple-Entwicklerkonferenz aus dem Portfolio gekippt. Und die SPD?
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, gegründet 1875 und damit die älteste Partei des Landes, wird gerade der Geschichte überantwortet. 15,8 Prozent der deutschen Wähler stimmten bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für die einstige Mitte-links-Volkspartei. In Österreich geht es der SPÖ trotz ihrer Oppositionsrolle auch nicht besser. Und die Französische Sozialistische Partei hat sich in aufeinanderfolgenden Regierungs- und Oppositionsrollen bereits mehr oder weniger verflüchtigt.
Aber bloß keine anti-linke Häme, drüben bei den Konservativen sieht es unwesentlich besser aus: Die Tristesse der CDU kommt jener der SPD gefährlich nahe, die französischen Konservativen sind ihren sozialistischen Gegnern in der Abwärtsbewegung dicht auf den Fersen, und in Großbritannien steuern Tories und Labour auf ein in jeder Hinsicht totes Rennen hin.
Die Entwicklerkonferenz würde urteilen: Die großen Volksparteien gehören deinstalliert. Viel zu voluminöse Programme, mangelhafte User Experience, überdimensionale Absprungquote. Raus damit.
Haben sie recht? Es wäre lächerlich, alten Strukturen nachzuweinen, wenn diese nachweislich unattraktiv geworden sind. Weshalb sollten Parteien und ein Parteiensystem, die aus dem vorigen und vorvorigen Jahrhundert stammen, unersetzlich sein? Sehen wir uns an, was als Alternative infrage kommen könnte!
Organisierte Bewegungen anstatt Großparteien: Emmanuel Macron schüttelte die auf ihn zugeschnittene Bewegung „En Marche“ aus dem Ärmel, um 2016 die französischen Präsidentschaftswahlen zu gewinnen; die italienische Fünf-Sterne-Bewegung kreierte unter anderem ein Internet-Abstimmungsverfahren, um die traditionelle innerparteiliche Demokratie zu erneuern; Jörg Haiders 2005 gegründetes Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) sollte möglichst wenig mit einer Partei zu tun haben. Doch bei allen Unterschieden ist allen eines gemeinsam: Unterschiede zu gewöhnlichen Parteien waren bereits nach kurzer Zeit kaum mehr auszumachen. Eine Bewegung, die im Parlament sitzt und/oder an der Regierung ist, ist – eine Partei.
Neue, fluide Massenbewegungen: Die französischen Gelbwesten, die Anhängerschaft der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg und die Brexit-Befürworter könnten inhaltlich unterschiedlicher nicht sein, doch sie alle verfolgen ein – großes – politisches Ziel, ohne dabei erkennbare hierarchische Strukturen aufzubauen. Könnte das der Nukleus eines neuartigen Phänomens sein – eine Bewegung rund um ein einziges Thema, angetrieben vom Turbo der sozialen Medien?
Derartigen Massenbewegungen gelingt es stärker als ähnlichen Gruppierungen in der Vergangenheit, rasch politischen Druck aufzubauen und an traditionellen Medien vorbei mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Doch am Ende ist der Druck auf Politiker und Parteien gerichtet, die Gesetze beschließen sollen. Die Gelbwesten erzwangen Gesetzesänderungen der Regierung, Thunbergs Forderungen werden von den Grünen transportiert, und die Brexit-Bewegung hat sich in die Brexit Party verwandelt.
In Österreich hat sich die beginnende sommerliche Hitze mit der Begeisterung über eine Expertenregierung gepaart. Dies scheint einem Bedürfnis nach Überparteilichkeit zu entspringen. Schluss mit Ideologie, reine Kompetenz und Fachwissen sollen Ursprung der Politik sein. Doch aus Fakten folgen keine Normen, das wissen wir seit David Hume. Müsste die Expertenregierung eine Steuerreform vorlegen, würde rasch klar, dass Gerechtigkeit keine logische Folge von Sachverstand ist.
So altbacken Volksparteien wirken, so komplex ist ihre Funktionsweise: Sie bilden ein Wertesystem, das alle Bereiche der Politik abdeckt. Sie schaffen einen Ausgleich zwischen widerstreitenden Interessen innerhalb der Partei. Und sie formen ihre Mitglieder entlang ihres Wertekanons. Wer sonst kann all das? Bisher niemand, außer vielleicht Kirchen und ähnliche Institutionen, aber die weisen in Demokratiefragen noch mehr Defizite auf als Parteien.
Am Ende stehen also wieder mal die Parteien. Nicht aus Nostalgie, nicht aus Angst vor Neuem, sondern weil sich – leider – noch nichts abzeichnet, das die Parteiendemokratie ersetzen könnte, ohne gleichzeitig die Demokratie an sich durch irgendetwas Gefährliches oder zumindest Unzureichendes abzulösen.
Eine Neuerung der jüngsten Zeit sollte man jedoch nicht übersehen: Das ungeheure Tempo, in dem neue oder lange Zeit kleine Parteien – Macrons La République en Marche, Nigel Farages Brexit Party, die deutschen Grünen oder die italienische Lega – zu bestimmenden Kräften werden, verändert unsere Demokratie enorm. Aber wenn jemand ein besseres System kennt – dann lasst es uns downloaden!
[email protected] Twitter: @robtreichler