Robert Treichler: Hurra, ich bin der Sieger!
Wladimir Putin hat gesprochen. Er hat in seiner durchaus einnehmenden, ein wenig listigen und humorvoll-provokanten Art den Liberalismus für gescheitert erklärt. Die liberale Idee habe „ihre Bestimmung überlebt“ und sei „obsolet geworden“, sagte Russlands Staatspräsident in einem Interview mit der „Financial Times“ im Kreml.
Putin ist kein Anhänger des Liberalismus? Geschenkt. Sein Umgang mit Wahlen, Völkerrecht, Menschenrechten, Journalisten und Oppositionellen macht dies seit vielen Jahren deutlich. Ein autoritärer, nationalistischer Machthaber, der sich auf Volkscharakter, Traditionen und die orthodoxe Kirche beruft, wäre als liberaler Vordenker ohnehin eher ungewöhnlich. Darin liegt also kein Neuigkeitswert.
Aufregend ist Putins Statement dennoch – als Urteil über das wichtigste politische Duell unserer Zeit: Liberalismus versus Autoritarismus-Populismus, auch bekannt als Illiberalismus. Dieses Match wird nicht zwischen zwei großen Blöcken ausgetragen und auch nicht mittels militärischer Aufrüstung, wie seinerzeit im Kalten Krieg zwischen der Sowjetunion und dem Westen. Das Match findet zwischen Staaten statt, aber auch innerhalb derselben. In liberalen Demokratien werden Kandidaten und Parteien in Regierungen gewählt, die illiberale Tendenzen aufweisen, gleichzeitig kommen illiberale Präsidenten durch liberale Bewegungen unter Druck.
Putin behauptet, der Kampf sei entschieden, er und sein System hätten gesiegt. Hat er recht?
Putin nennt als Beispiel wieder einmal die Entscheidung von Angela Merkel, 2015 die Grenzen für syrische Flüchtlinge zu öffnen. Dieser „Kardinalfehler“ habe gezeigt, dass der Liberalismus mit den Interessen der „überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung“ in Konflikt stehe, so Putin. Migranten könnten „ungestraft töten, plündern und vergewaltigen“, weil ihre Rechte als Migranten sie schützten. Auch die „traditionellen Werte“ würden zugunsten „mancher Dinge“ im Zusammenhang mit LGBT-Personen missachtet. Deshalb wendeten sich die Mehrheiten selbst in westlichen Staaten von der liberalen Idee ab.
Hat Putin damit nicht recht? Der Aufstieg des Rechtspopulismus fast überall in Europa, die Wahlsiege von Donald Trump in den USA, Matteo Salvini in Italien, Viktor Orbán in Ungarn scheinen ihn doch vollauf zu bestätigen.
Doch Putins Interpretation der politischen Großwetterlage ist Propaganda. Tatsächlich besagt der Liberalismus, dass die Rechte des Individuums in jedem Fall geschützt werden müssen. In den vergangenen Jahren haderten große Teile der europäischen Bevölkerung damit, dass auch Flüchtlinge und Migranten unveräußerliche Rechte haben und dass diese auch missbräuchlich in Anspruch genommen werden können. Das ändert gar nichts daran, dass Europa – trotz aller möglichen Missstände – ein Hort der liberalen Demokratie bleibt. Niemand wagt ernsthaft, die Europäische Menschenrechtskonvention aufzukündigen, und wer trotzdem laut darüber nachdenkt, so wie Österreichs Ex-Innenminister Herbert Kickl, muss schnell einsehen, dass er ebenso gut das Recht auf Privateigentum infrage stellen könnte.
Großkotzige Illiberale geraten schneller aus der Balance als ein E-Roller auf Schotter.
Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit – all das gilt in Europa und auch in den USA. Versuche, an diesen Grundfesten zu rütteln, häufen sich, aber sie haben kaum Erfolg. Ein Sorgenfall wie Ungarn bleibt die Ausnahme. Insgesamt erweist sich die liberale Demokratie als stabil, resilient und unvergleichlich attraktiv.
Dass dieses Bild nicht so deutlich wahrgenommen wird, liegt an einem fundamentalen Irrtum: Rechte Politik wird oft fälschlich mit Illiberalismus gleichgesetzt. Wenn etwa die (mittlerweile zerbrochene) österreichische Bundesregierung die Mindestsicherung kürzt, ist das rechte Politik – aber nicht illiberal.
Ein Jahr vor Ende der ersten Amtszeit von Donald Trump kann kein Zweifel daran bestehen, dass die USA eine liberale Demokratie bleiben. Die unabhängige Justiz funktioniert. Die Berufung eines erzkonservativen Richters an den Supreme Court ist rechts – aber nicht illiberal.
In Wahrheit sollten sich Putin und seinesgleichen Sorgen machen. Er wünscht sich wohl eine Revanche für den Zusammenbruch der Sowjetunion, den er 2005 als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete. Das damals verkündete „Ende der Geschichte“ und der endgültige Sieg des Liberalismus waren für Putin und viele andere eine Demütigung. Jetzt will er den Spieß umdrehen.
Doch die großkotzigen Illiberalen, die ihre Macht auf das Versprechen aufgebaut haben, den Volkswillen zu verkörpern, geraten schneller aus der Balance als ein E-Roller auf Schotter. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan verliert die Istanbuler Wahl und muss das Erkenntnis des Verfassungsgerichts akzeptieren, wonach die Verhaftung des Journalisten Deniz Yücel rechtswidrig war. Chinas Regime zittert vor Hongkonger Protesten. Die Attraktivität liberaler Demokratie ist weltweit ungebrochen.
Und Putin? Als das staatliche Meinungsforschungsinstitut VTSIOM im Mai dieses Jahres den alarmierend niedrigen Wert von knapp über 30 Prozent Vertrauen in den Präsidenten erhob, musste rasch eine neue Umfrage – mit geänderten Parametern – durchgeführt werden, um den Wert wieder auf über 70 Prozent hochzukriegen.
Was war da gleich nochmal obsolet?
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