Robert Treichler: Sex und Wählen

Wir sind Säugetiere. Demokratische Säugetiere. Das wollen wir auch bleiben.

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Es ist Zeit für ein Plädoyer für zwei Grundbedürfnisse zu Zeiten von Corona: Sex und Wählen. Ich vermute stark, an dieser Stelle teilt sich die profil-Leser- und -Leserinnenschaft in zwei Gruppen. Die eine sagt: Wieso Sex???? Die andere: Wieso Wählen???? Es mag auch Überschneidungen geben.

Sicher ist jedenfalls, dass seit Anbruch der nervigsten Phase unserer jüngeren Geschichte – der Corona-Lockdown-Abstandhalten-Test-vorweisen-Ära – viel über unverzichtbare Beschäftigungen des Menschen debattiert worden ist. Was brauchen wir Menschen, um Mensch zu sein? Bildung (unbestritten), Konsum (Verweigerung ist ein De-luxe-Hobby), Kultur (und zwar ohne Qualitätsfilter), Sport (Gehen gilt auch). Weil die Bildung im politischen Konsens als erste Priorität definiert wurde, verlagerte sich die Diskussion auf die Frage der Verarmung, die durch den Entzug von Kultur entsteht. Stefan Grissemann, der Leiter des profil-Kulturressorts, erläuterte vergangene Woche unter dem Titel „Fass mich nicht an!“ die Probleme, die entstehen, wenn darstellende Künste auf das Körperliche und die Nähe verzichten müssen.

Das alles ist richtig. Umso erstaunlicher, besser noch: erschreckender, ist die Tatsache, dass ein anderer Vorgang regelmäßig und ohne großen Widerspruch in den Wartebereich des Verschiebbaren verwiesen wird: das Wählen. Wann immer ein – guter oder weniger guter – Anlass für die Forderung nach Neuwahlen auftaucht, folgt unmittelbar hinterdrein der Hinweis, dass es „in Zeiten der Pandemie“ eigentlich verantwortungslos sei, Legislaturperioden abzukürzen. Nein, ist es nicht.

Schlimm genug, dass es derzeit höchst unattraktiv ist, Demonstrationen abzuhalten, weil mit Ausnahme von Corona-Skeptikern kaum jemand an Großveranstaltungen teilnehmen will. Noch schlimmer, dass Demonstrationsverbote verhängt und begrüßt werden. Doch Neuwahlen als nicht zu rechtfertigendes Risiko zu brandmarken, ist eine gefährliche Entwicklung. Der Rücktritt einer Regierung, das Platzen einer Koalition oder ein Misstrauensvotum im Parlament sind allesamt Elemente der Demokratie, die selten als erfreulich wahrgenommen werden, die aber in Wahrheit ebenso unverzichtbar sind wie ein Mehrparteiensystem oder das allgemeine Wahlrecht. Ist eine Regierung am Ende, soll sie gehen, und zwar unabhängig vom Infektionsgeschehen.

Die Beurteilung, ob dies in Österreich der Fall ist, überlasse ich gern den Kolleginnen und Kollegen im Österreich-Ressort. Wesentlich ist, dass jede Demokratie darauf vorbereitet sein sollte, im Falle des Falles Neuwahlen abzuhalten.

Werfen wir einen Blick nach Israel: Dort wird am 23. März zum vierten Mal innerhalb von zwei Jahren ein Parlament gewählt. Kein wünschenswerter Zustand, aber es kann vorkommen, dass demokratische Wahlen instabile Regierungen hervorbringen, weil die Mehrheiten nicht eindeutig sind. (Die Tatsache, dass Premierminister Benjamin Netanjahu nebenbei in einem Korruptionsprozess als Angeklagter vor Gericht steht, ist hingegen ein viel größeres Problem, aber das ist hier nicht das Thema.)
 

Was also macht Israel? Die epidemiologische Lage im Land ist trotz einer extensiven Impfaktion alles andere als rosig, im Gegenteil: Bei gleicher Einwohnerzahl wie Österreich (8,8 Millionen) verzeichnete Israel vergangene Woche bei Neuinfektionen einen Sieben-Tage-Mittelwert von 5599, während es in Österreich nur 1334 waren.

Elektronisches Wählen hat Israel – obwohl es im IT-Sektor eines der fortschrittlichsten Länder der Welt ist – bislang aus Angst vor Hacking nicht eingeführt. Um die Gefahr der Virus-Verbreitung am Wahltag zu minimieren, wird die Zahl der Wahllokale deutlich erhöht. In Quarantäne-Hotels ist die Stimmabgabe an Ort und Stelle möglich, Infizierte können mit dem Auto zu Drive-through-Wahlstationen fahren oder gebracht werden und dort ohne menschlichen Kontakt ihre Stimme abgeben. All das kostet viel Geld, und, wie bei allen Aktivitäten, die über das Allein-zu-Hause-Sitzen hinausgehen, bleibt ein Restrisiko. Aber die Demokratie kann man nicht in Quarantäne schicken.

Die französischen Regionalwahlen im März 2020 waren ein Beispiel für Verantwortungslosigkeit. Ohne ausreichende Sicherheitsmaßnahmen gingen die Infektionszahlen kurz nach dem Wahlgang durch die Decke. Doch seither war genug Zeit, um sich bessere Methoden und Abläufe auszudenken.

Deshalb gilt: Stürzt die Regierung? Okay, dann wählen wir eben neu.

So, war da noch was? Ach ja, Sex. Auch der hat es in der öffentlichen Debatte nicht leicht. Wann immer irgendwo eine größere Party – respektive: Orgie – hochgeht, setzt unerbittliche Empörung ein. Nein, ich plädiere nicht für die Umgehung von Beschränkungen von Kontakten, aber für Verständnis im Falle triebbedingter Delinquenz. Die 1,4 Millionen Singlehaushalte in Österreich wurden nicht in der Absicht dauerhafter sexueller Enthaltsamkeit gegründet.

In Brüssel werden vom 12. bis 21. Februar Doppelzimmer in Fünf-Sterne-Hotels unter dem Titel „knuffelcontact“ um 96 Euro vermietet. Wie Sie „knuffel“ übersetzen, überlasse ich Ihnen. Die Pandemie-Vorschriften werden dabei jedenfalls – versprochen – eingehalten.

Wir sind Säugetiere. Demokratische Säugetiere. Wir haben Sex, und wir wählen.  

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur