Robert Treichler: Spüren Sie was?
Das ist kein Kommentar, wie Sie ihn sonst an dieser Stelle finden. Es ist vielmehr ein gänzlich unpolitischer Versuch, Ihnen etwas vor Augen zu führen. Eigentlich ist das ja der Job des Reporters, den ich viele Jahre gemacht habe. Ich war unterwegs und habe beschrieben, unter welchen Umständen und in welchen Ausnahmesituationen Menschen anderswo leben. Oft hatte ich dabei das Gefühl, es kommt nicht so recht rüber.
Eine unbeheizte, fensterlosen Aluhütte in den winterlichen Bergen Pakistans; aufgestellt als Notunterkunft nach einem Erdbeben, aber zur dauerhaften Wohnung geworden, weil den Hilfsorganisationen das Geld ausging. Wie kann man nachvollziehbar machen, wie es sich anfühlt, so zu leben? Oder: Dadaab in Ostkenia, das größte Flüchtlingslager der Welt. Eine Generation von Somaliern ist hier aufgewachsen, die Baracken in der Wüste sind zur Heimat geworden. Können wir verstehen, was es heißt, hier sein Leben zu planen?
All das ist absurd, tragisch, aber vor allem: sehr weit weg.
Jetzt, plötzlich, tut sich eine Gelegenheit auf, uns etwas klarzumachen, die Schicksale näher an uns herankommen zu lassen. Nein, ich habe nicht darauf gewartet, und mir wäre auch lieber, diese Gelegenheit hätte sich nicht geboten, aber weil sie nun mal da ist, will ich sie nützen: Wir erleben mittlerweile den dritten sogenannten Lockdown, und es spricht einiges dafür, dass es nicht der letzte sein wird.
Die Medien, auch profil, beschreiben die beunruhigenden Folgen. Die psychischen Probleme, die Verunsicherung, die Schwierigkeit, irgendwie den Schulunterricht fortzusetzen, die soziale Verkümmerung, die daraus resultierende psychische und physische Gewalt in den Familien, das wirtschaftliche Desaster, die Einkommensverluste, die Ungewissheit, wann der Aufschwung kommen wird … Allesamt schwere Beeinträchtigungen unseres Lebens.
Stellen Sie sich jetzt mal vor, wir wären nicht erst seit einem Jahr in dieser misslichen Lage, sondern seit fünf Jahren, seit zehn oder seit 30. Stellen Sie sich vor, die Grenzen wären dicht, seit Sie ein Kind sind. Sie wären noch nie im Ausland gewesen, sie hätten noch nicht einmal die nähere Umgebung verlassen. Es gäbe keine Chance, in einem anderen Land zu studieren oder einmal in ein Land zu fahren, wo eine andere Sprache gesprochen wird. Die Museen, Ausstellungen und Kinos wären nicht seit Monaten geschlossen, sondern es gäbe überhaupt keine. Die Regierung würde nicht bloß ausnahmsweise Demonstrationen untersagen, weil Hygienevorschriften nicht eingehalten würden, sondern jegliche Kundgebung verbieten, die ihr nicht in den Kram passt. Junge Leute hätten nicht Probleme mit dem Dating, weil die Clubs zu sind; Dating wäre sitten- und deshalb ordnungswidrig und würde von der Polizei verfolgt.
Die Wirtschaft wäre eingebrochen, allerdings schon vor Jahrzehnten; Arbeitslosigkeit kein akutes Phänomen, sondern der Dauerzustand für die Mehrheit der Bevölkerung. Die Gesundheitsversorgung unzureichend, aber nicht nur vorübergehend, wegen akuter Überbelastung. Nein, immer.
Und während wir zu Recht ungeduldig und auch ein wenig sauer sind, dass die Impfaktion, die uns aus dem ganzen Schlamassel befreien soll, nur stockend anläuft, gäbe es gar keine Impfaktion, keinen Impfstoff, auch kein Freitesten und keinen Bundeskanzler und Gesundheitsminister, die versprechen, dass die Normalität bald wieder hergestellt werde und sich langsam Licht am Ende des Tunnels zeige.
Die eben beschriebene, unerträgliche Situation wäre die gleichzeitig benommen und wütend machende Normalität. Dieses Land, das ich hier beschreibe, gibt es. Es wurde unzählige Male in Reportagen beschrieben, aber ich vermute, dass bisher dennoch kaum jemand nachempfinden konnte, wie es Leuten geht, die dort leben. Das Land heißt Gaza.
Das ist – ausnahmsweise – keine politische Erörterung, wer an der grausamen Lage der Bevölkerung von Gaza Schuld trägt. Nicht, dass das unerheblich wäre, im Gegenteil, aber jetzt ist die Chance, wenigstens ansatzweise zu empfinden, worum es geht, wenn wir über die „Blockade von Gaza“ lesen, über den „abgesperrten Küstenstreifen“ und ein Volk, das von der radikal-islamistischen Hamas beherrscht wird. Derzeit wird diskutiert, ob Tirol vorübergehend „abgeriegelt“ werden soll. Das Bundesland ist 35 Mal so groß wie Gaza, und in Gaza leben mehr als doppelt so viele Menschen.
Die temporäre, milde Unfreiheit, die wir jetzt erleben, gibt es auch in ungleich brutalerer Form als Dauerzustand. Und Gaza ist nur ein Beispiel. Was lernen wir daraus, außer der banalen Wahrheit, dass anderswo alles noch viel schlimmer ist? Weil wir in Freiheit leben, haben wir die Verantwortung, uns für die einzusetzen, die unfrei sind. Die freie Welt hat die Verpflichtung, zu reagieren, wenn die Bevölkerung von Gaza jahrzehntelang eingekerkert ist; wenn Politiker in Myanmar unter Hausarrest stehen; wenn ein Oppositioneller in Russland zu Lagerhaft verurteilt wird. So ist zu verstehen, was US-Präsident Joe Biden in seiner Rede zur amerikanischen Außenpolitik am vergangenen Donnerstag „Amerikas am höchsten geschätzten demokratischen Wert“ nannte: „die Freiheit zu verteidigen“. Und das ist dann doch wieder sehr politisch.