Robert Treichler: Stummgeschaltet
Es klingt nicht wie ein Tabubruch, und doch wurde es dazu: Die "New York Times" rückte am 3. Juni auf ihren Meinungsseiten einen Gastkommentar ins Blatt, der von Tom Cotton, einem republikanischen Senator von Arkansas, verfasst worden war. Ein auf den ersten Blick harmloses Unterfangen, schließlich durften auch schon Russlands Präsident Wladimir Putin oder Sirajuddin Haqqani, der stellvertretende Anführer der afghanischen Taliban, ihre Meinung in der "Times" publizieren.
Doch gegen die Veröffentlichung von Cottons Text protestierten Leser und auch "New York Times"-Journalisten so heftig, dass der umstrittene Gastbeitrag online mit einer Distanzierung der Redaktion versehen wurde, mehrere Gegenkommentare erschienen (einer davon mit dem Titel "Tom Cottons faschistisches Meinungsstück") und die beiden verantwortlichen leitenden Redakteure den Hut nehmen mussten.
Cotton hatte unter dem provokanten Titel "Schickt die Soldaten!" argumentiert, dass angesichts der grassierenden "Gesetzlosigkeit" bei den antirassistischen - und anfangs teils gewalttätigen - Demonstrationen nur ein Einsatz der regulären Armee wieder für Recht und Ordnung sorgen könnte. Das erwies sich erstens als falsch und wurde von Cotton zweitens unter anderem mit längst widerlegten Legenden von einer "Unterwanderung" der Demonstrationen durch die Antifa begründet. Allerdings bekamen die Leser der Zeitung auf diese Weise recht originalgetreu die Argumentation von US-Präsident Donald Trump und seinem engsten Umfeld präsentiert. Bloß: Ist das ein Service oder eine Zumutung?
Im deutschen Magazin "Der Spiegel" formuliert US-Korrespondent Philipp Oehmke eine grundlegende Kritik an einem "Neutralitätsjournalismus", der mit seinem Ausgewogenheitsanspruch an Donald Trump "zerschellt" sei. Oehmke und viele andere verlangen von Medien, "Farbe zu bekennen". Trumps Regierung bediene sich der Hetze, der Demagogie und erfundener Behauptungen und dürfe deshalb keinen Raum bekommen. Die Leser "möchten wahrscheinlich auch keinen Artikel lesen, der zum Einsatz des Militärs gegen die eigene Bevölkerung rät", so Oehmke. Ihn abzudrucken, verrate "moralische Indifferenz". Und den Trump-Verteidigern bei Polittalkshows auf CNN wolle auch niemand zuhören.
Moralisch zu differenzieren heißt also, Medienkonsumenten nicht länger durch Wortmeldungen von Demagogen zu irritieren - selbst wenn es die Führungselite des Landes ist. Das mag die Morgenlektüre und den TV-Abend erfreulicher machen, aber was ist damit gewonnen?
Cotton, dessen Republikanische Partei und vor allem Trump sind nun einmal an der Macht, und der Präsident hätte die Soldaten losschicken können. Seine Begründung dafür wäre den Lesern nicht neutraler Blätter zwar im Wortlaut erspart geblieben, die Armee in den Straßen allerdings nicht. Deshalb war Cottons Position relevant, so wie jede, die ein US-Präsident und dessen Umfeld vertreten.
Bleiben seriöse Medien für Trump und seinesgleichen verschlossen, gewinnen andere Kanäle an Bedeutung: Twitter, Alt-Right-Plattformen wie Breitbart. Das macht den öffentlichen Diskurs nicht eben qualitätsvoller. Im Gegenteil, dort ist ein Kommentar nicht wie in der "New York Times" eingebettet in eine Reihe von Gegenkommentaren und Berichten, die jeden Aspekt hinterfragen.
Außerdem spaltet der Zwang oder Drang, sich politisch so kategorisch festzulegen, dass keine Stimme der gegnerischen Seite mehr im O-Ton vorkommen darf, die Medienwelt in zwei Teile. Es würde eine Art Rückkehr in die präpluralistische Welt der Parteizeitungen bedeuten. Damit wären auch die Konsumenten wieder gezwungen, sich für eine Seite zu entscheiden. Lesen Sie die Argumente der einen oder die der anderen? Auch der Vorwurf der Neuen Rechten, wonach die "Mainstream-Medien" allesamt unfähig seien, Vertreter ihnen nicht genehmer Positionen zu Wort kommen zu lassen, wäre unleugbar zutreffend geworden.
Hinter diesem Verständnis von Journalismus steckt die Idee, man könne den bösen Teil der Welt eliminieren, wenn man ihn zum Schweigen bringt. Die Verbannung aus dem Paradies der Meinungsseiten soll Trump und seine Anhänger als Outlaws punzieren, und diese Ächtung möge ihre Politik und ihren Erfolg sabotieren. Statt "audiatur et altera pars" (die Gegenseite hören) lautet die neue Tugend: "Stummschalten."
Im "Spiegel"-Kommentar heißt es, "Donald Trump konnte nur gewählt werden, weil die 'New York Times' oder der Nachrichtensender CNN mit ihrem Anspruch auf journalistische Fairness den abstrusesten Faktenverdrehern immer wieder Raum gegeben haben." Diese Behauptung ist schlechthin unbeweisbar. Sie als Faktum hinzustellen, hat fast schon Trump'sche Qualität.
Tom Cotton wird übrigens als möglicher Kandidat für Trumps Nachfolge gehandelt. Wie viele "New York Times"-Leser würden ihn 2024 wählen, weil sie seinen Kommentar in ihrer Zeitung toll gefunden haben? Ich schätze, eine Zahl im kaum messbaren Bereich. Und wegen der paar Leute würden alle anderen für dumm verkauft.
[email protected]
Twitter: @robtreichler