Robert Treichler: Tauschen und täuschen
Was steckt hinter dem Begriff „Bevölkerungsaustausch“? Nicht allzu viel, wenn man Bundeskanzler Sebastian Kurz folgt. Von „ZIB 2“-Moderator Armin Wolf dazu befragt, sagte der Kanzler, ihm gefalle dieser Begriff nicht, er verwende ihn nicht, und dann formulierte Kurz einen semantischen Einwand: Ein Bevölkerungsaustausch würde implizieren, dass neben der „Massenmigration nach Europa aus Ländern wie Syrien, Irak, Afghanistan“ auch eine Wanderungsbewegung von Europäern in die Gegenrichtung stattfinde. Da es die nicht gebe, sei es „sachlich falsch“, von einem Bevölkerungsaustausch zu sprechen, so Kurz.
So monumental missverstanden hat diesen Terminus wohl noch niemand, aber Kanzler einer Bundesregierung mit FPÖ-Beteiligung zu sein, erfordert manchmal Anstrengungen, die das Vorstellbare übersteigen.
Ja, Kurz hat recht: Eine europäische Massenmigration in Bürgerkriegsländer des Nahen und Mittleren Ostens lässt sich nicht ausmachen. Das hat allerdings auch keiner der Vertreter des politischen Konzepts des Bevölkerungsaustauschs jemals behauptet. Die einzige politisch relevante Bedeutung geht auf den französischen Intellektuellen Renaud Camus zurück, der 2011 das Buch „Der große Austausch“ veröffentlichte. Es handle sich bei diesem politischen Phänomen um „die größte Krise unserer Geschichte“, warnte Camus in einem später publizierten Aufruf mit dem Titel „Revoltiert, in Gottes Namen!“ Seine These: In aller Heimlichkeit hätten sich Politik und Medien zusammengetan, um das französische – und analog dazu das europäische – Volk mittels Masseneinwanderung und Masseneinbürgerungen verschwinden zu lassen und durch eine neue, mehrheitlich islamische Bevölkerung zu ersetzen. Dabei würden die europäische Kultur und Zivilisation, wie wir sie kannten, ausgelöscht, die Nation in aller Stille ermordet, so Camus.
Die Identitäre Bewegung übernahm Camus’ Theorie vom Großen Austausch begeistert und verwendet sie seither als Schreckensbild, um ihren Kampf gegen Einwanderung eindringlicher zu vermarkten. So verbreitete sich der Begriff in den rechtsextremen Milieus der westlichen Welt, bis er schließlich auf dem „Manifest“ des Attentäters Brenton Tarrant prangte, der am 15. März dieses Jahres bei Anschlägen auf zwei Moscheen in der neuseeländischen Hauptstadt Christchurch insgesamt 50 Menschen tötete.
Tarrant war besessen von der Vorstellung, dass durch die „Eroberer“, wie er muslimische Einwanderer nannte, ein „ethnischer, kultureller und rassischer Austausch“ vollzogen würde. Um das „weiße Volk“ zu retten, griff er zu den Waffen.
Der 'Bevölkerungsaustausch' ist der Chemtrail für Rassenkundler.
Renaud Camus hat niemals zu Gewalt aufgerufen. Als hochintelligente Kassandra begnügte er sich mit dem Ausmalen düsterer Szenarien und mit halbironisch-halbengagiertem Aktivismus. 2012 kündigte er an, bei den Präsidentschaftswahlen kandidieren zu wollen, rief aber schließlich dazu auf, die rechtspopulistische Kandidatin Marine Le Pen zu wählen.
Führt die Theorie des Bevölkerungsaustauschs notwendigerweise zu Gewalt und Terror? Nein. Manche ihrer Anhänger kämpfen mit politischen Mitteln gegen Einwanderung. Aber wie stark die Theorie vom Bevölkerungsaustausch durch die Attentate von Christchurch kontaminiert und selbst für Rechte politisch inakzeptabel geworden ist, zeigt die Tatsache, dass sich Marine Le Pen davon distanziert. Sie kenne die Theorie nicht und habe den Begriff nie verwendet, sagte die Chefin des Rassemblement National, und nahm in Kauf, der Unwahrheit überführt zu werden.
Damit wäre wohl das Ende des Spuks vom „Bevölkerungsaustausch“ diesseits von zwielichtigen rechtsextremen Gruppen gekommen – wären da nicht die FPÖ und auch die Alternative für Deutschland (AfD), die unbeirrt daran festhalten. FPÖ-Chef und Vizekanzler Heinz-Christian Strache sagte vergangenen Mittwoch bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Kanzler Kurz, man könne „den Bevölkerungsaustausch nicht leugnen“. Wer an dieser Theorie festhält, muss nicht nur mit dem Stigma von Christchurch leben, sondern verkürzt Einwanderungs- und Integrationspolitik auf das Zählen von Köpfen – jeder Einzelne ist demnach eine weitere Bedrohung. Das ist bösartig, rassistisch und auch unsinnig. Londons Bürgermeister Sadiq Khan, ein Muslim pakistanischer Abstammung, hochgebildet und Befürworter der Homo-Ehe, gilt den Austausch-Narren als Beispiel für die Zerstörung europäischer Zivilisation.
Die Fantasie einer geheimen Kollaboration von „Politik“ und „Medien“, die das nicht offen ausgesprochene Ziel der Zerstörung europäischer Kultur verfolge, erfüllt alle Kriterien einer Verschwörungstheorie. In sich ist sie stimmig, ihr Irrsinn offenbart sich erst, wenn sie an die Realität stößt: Dass Muslime in Europa zur Mehrheitsbevölkerung werden, ist eine völlig abstruse Behauptung: Nach Berechnungen des unabhängigen US-Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center wird ihr Anteil von derzeit knapp unter fünf Prozent bis 2050 auf 11,2 Prozent anwachsen – laut einem Szenario bei starker Zuwanderung und Geburtenrate auf bis zu 14 Prozent. Im Übrigen ist völlig unklar, welches Interesse die angeblich miteinander paktierende politisch-mediale Elite daran haben soll, die Zusammensetzung der Europäer massiv zu verändern und die europäische Zivilisation zu untergraben. Der Bevölkerungsaustausch ist der Chemtrail der Rassenkundler.
All das bloß „sachlich falsch“ zu nennen, ist … falsch.
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