Robert Treichler
Meinung

Robert Treichler: Tschaikowsky und der Krieg

Mit repressiven Methoden gegen russische Künstler und Medien schadet sich Europa selbst.

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Tschaikowskys „Ouvertüre 1812“ ist recht laut und lärmend und besitzt keinen künstlerischen Wert. Ehe Sie mir vorwerfen, ich sei übergeschnappt: Es handelt sich bei diesem etwas harschen Urteil um ein Zitat von Tschaikowsky selbst. Das Musikstück aus dem Jahr 1882 ist dem Verriss des Komponisten zum Trotz bis heute populär, und Freitag dieser Woche sollte es vom Cardiff Philharmonic Orchestra in der St. David’s Hall in Cardiff wieder einmal aufgeführt werden. Doch die „Ouvertüre 1812“ wurde gestrichen, und stattdessen steht Dvôráks 8. Sinfonie auf dem Programm. Der Grund, weshalb Tschaikowsky weichen musste: Wegen der Invasion Russlands in der Ukraine sei seine Ouvertüre „unpassend“. Dann schon lieber eine Sinfonie eines Komponisten aus dem heutigen NATO-Land Tschechien.


Doch, diese Geschichte ist wahr. Und sie ist zwar besonders absurd, aber nicht der einzige Fall. Eine Ausstellung der Künstlerinnen Maria und Natalia Petschatnikov, in Russland geborene Zwillingsschwestern, die seit 20 Jahren in Deutschland leben, wurde in der dänischen Stadt Horsens abgesagt, weil, so ein Stadtpolitiker, „es nicht der richtige Zeitpunkt ist, russische Kunst und Kultur zu fördern oder zu unterstützen“.

Die Europäische Filmakademie hat bekannt gegeben, dass in diesem Jahr russische Filme von dem seit 1988 vergebenen Europäischen Filmpreis ausgeschlossen sind, und zwar unabhängig davon, welche Haltung der jeweilige Regisseur oder die Regisseurin zu Putins Angriffskrieg einnimmt.

Einzelne Künstler, die sich in der Vergangenheit als sehr Putin-nahe gezeigt haben, wie etwa der Dirigent Valery Gergiev und die Opernsängerin Anna Netrebko verloren Engagements, weil sie sich trotz Aufforderung nicht öffentlich von Putin distanzierten.
Der Rat der Europäischen Union – eine der drei höchsten politischen Institutionen der EU – hat per Verordnung die Verbreitung der russischen Medien „Sputnik“ und „RT“ (früher: „Russia Today“)  verboten.


Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat Europa aufgewühlt. Zu Recht. Die EU verhängt deshalb nie da gewesene Wirtschaftssanktionen gegen Russland, und ich habe das im Leitartikel der vergangenen Woche nicht nur begrüßt, sondern sogar befürwortet, im Falle weiterer militärischer Eskalationen ein Gas-Embargo zu erwägen. Doch im Schatten sinnvoller Maßnahmen gegen Putin, dessen Regime und seine Günstlinge entwickelt sich ein aggressiver Aktivismus, der nicht nur ins Lächerliche abdriftet, sondern die Prinzipien untergräbt, die von der westlichen Gemeinschaft in der Ukraine verteidigt werden: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit.


Es ist nicht naiv, die Einhaltung dieser Grundwerte zu verlangen, es ist vielmehr dringend nötig:
-    Leute in irgendeiner Form zu benachteiligen, nur weil sie in Russland geboren sind, ist ein Unrecht.
-    Russische Kultur kann propagandistischen Zwecken dienen, sie ist aber keinesfalls von vornherein mit Propaganda gleichzusetzen. Für Kultur gilt die Freiheit der Kunst, Propaganda sollte entlarvt und gekontert werden.
-    Meinungsfreiheit gilt auch für Prominente. Sie beinhaltet auch die Weigerung, sich zu einem Thema öffentlich zu äußern. Wie ist das mit Gergiev und Netrebko? Sie haben in der Vergangenheit eindeutig pro Putin Stellung bezogen, sodass sie sich jetzt nicht einfach auf die Position zurückziehen können, unpolitisch zu sein. Die Fragen an sie sind berechtigt. Solange sie jedoch ihre Auftritte nicht dazu benutzen, Stimmung für Putin und seinen Krieg zu machen, ist ein de facto Berufsverbot, verhängt durch die Direktionen der Opernhäuser, nicht zu rechtfertigen. Hingegen wäre ein Boykott durch das Publikum ein legitimer Akt.
-    Wer nie öffentlich Putin-freundlich agiert hat, kann jetzt nicht zu einer Distanzierung gezwungen werden, nur weil er oder sie einen russischen Pass hat. Der Zwang zu öffentlichen Bekenntnissen ist eine Methode totalitärer Systeme.
-    Für ein Verbot von Medien gelten Regeln. Es sollte keinesfalls von einer politischen Instanz verhängt werden. Wenn RT und Sputnik gegen Auflagen verstoßen, so sollen die jeweiligen Medienbehörden dies untersuchen und entsprechend vorgehen. Am Ende eines solchen Verfahrens kann auch der Lizenzentzug stehen.


Wenn Europa repressive Maßnahmen abseits rechtsstaatlicher Verfahren anwendet, fügt es sich selbst damit viel größeren Schaden zu, als jede prorussische Propaganda durch vereinzelte prominente Putin-Fans oder russischer Pseudojournalismus es vermag. Tschaikowskys „Ouvertüre 1812“ habe ich mir wegen der Absage eben angehört. Ich gebe ihm übrigens recht.

 

Der Zwang zu öffentlichen Bekenntnissen ist eine Methode totalitärer Systeme."

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Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur