Robert Treichler über Amanda Gorman: Das dünne, schwarze Mädchen
Vier Jahre lang ist das amerikanische Englisch von allerhöchster Stelle malträtiert worden; wenn auch, zugegeben, auf stimmige Weise, indem nämlich die miserable Form (die stupiden Wiederholungen, die lächerlichen Versalien …) dem miserablen Inhalt (darüber wollen wir schweigen) getreu folgte. Genug.
Plötzlich tauchte bei der Inaugurationsfeier von Joe Biden die bis dahin weitgehend unbekannte Amanda Gorman auf der Bühne des Kapitols auf, eine Poetin, 22 Jahre alt, Afroamerikanerin, und rezitierte ihr Gedicht „The Hill We Climb“ (Der Hügel, den wir erklimmen). Alles an dieser Performance war bedeutungsvoll: die Person, ihre Geschichte, ihr Vortrag und natürlich ihr Gedicht.
Gormans Auftritt war nicht ein bisschen Deko für den Festakt, sondern ein hochpolitisches Statement.
Beginnen wir mit der Person. Dass Joe Biden Amanda Gorman auswählte, zeigt, dass auch jetzt das Grundversprechen der Vereinigten Staaten von Amerika lebendig ist – Aufstieg durch Talent. Gorman, Tochter einer alleinerziehenden Lehrerin, aufgewachsen in Watts, einem Stadtteil von Los Angeles, international bekannt geworden durch den „Watts-Aufruhr“ (Watts riots) von 1965. Die Bevölkerung von Watts setzt sich fast ausschließlich aus Latinos und Afroamerikanern zusammen, ist statistisch ärmer und jünger verglichen mit dem Rest der Stadt. Dazu ist Watts dichter besiedelt und hat den höchsten Anteil an Alleinerziehern. Amanda Gorman ist also ziemlich repräsentativ für ihren Heimatbezirk.
Dass sie es bis auf die Bühne des Kapitols schaffte, verdankt sie einerseits ihrer Mutter, die Amanda von klein auf ermutigte, zu schreiben, und einem Stipendium, das es ihr ermöglichte, an der teuren Elite-Universität von Harvard zu studieren. Dieses Stipendium finanzierte die Stiftung der Milken Family, gegründet und betrieben von den Brüdern Lowell und Michael Milken, zwei Milliardären, die unter anderem mit der Entwicklung von Junk Bonds (hochriskanten Anleihen) ein Vermögen machten. Michael Milken saß wegen Verstößen gegen Börse-Gesetze zwei Jahre im Gefängnis, begnadigt wurde er von – US-Präsident Donald Trump.
Gorman bei der wichtigsten staatlichen Zeremonie auftreten zu lassen, könnte man auch falsch interpretieren – als Beleg dafür, dass der American Dream für die Unterschicht ohnehin funktioniere. Tatsächlich tut er das für viel zu wenige, Tendenz fallend. Klüger interpretiert zeigt Gorman, welche Talente in Bevölkerungsgruppen schlummern, die immer noch auf schändliche Weise benachteiligt sind.
Dass Gormans Auftritt kein bisschen nach Minderheitenförderung aussah, lag an der unnachahmlichen Eleganz der jungen Frau. Die Bewegungen ihrer Hände, mit denen sie ihre Worte unterstrich, das Timbre der Stimme, der rote Haarreif zur sonnengelben Jacke, der fette Klunker am Mittelfinger der rechten Hand – Gorman vereinte das Selbstbewusstsein von Hillary Clinton mit dem Rhythmusgefühl von Lauryn Hill und der Poetik von Lucille Clifton.
Jetzt zum Gedicht. Es ist eine ebenso unermesslich ehrenvolle wie auch riskante Aufgabe, ein politisches Gedicht für eine Amtseinführung zu verfassen. Kunst soll nicht zujubeln, sonst endet sie in plumper Hagiografie. Andererseits hätte ein Stück zorniger Literatur wohl den Effekt gehabt, dass Gorman wie eine bei der Zeremonie geduldete Minderheitenstimme gewirkt hätte.
Die 22-Jährige umschiffte dieses Riff und entschied sich für das „Wir“ als Perspektive des Gedichts. „Wir haben dem Bauch der Bestie getrotzt./ Wir haben gelernt, dass Ruhe nicht immer Frieden bedeutet.“
Wir, das sind in ihrem Gedicht alle, die im Land leben. Damit transportiert Gorman das Thema der Inauguration – „Die Einheit Amerikas“ –, vorgetragen von einer Afroamerikanerin, die sich selbstverständlich als Teil dieser Einheit begreift. Mitten in einer Zeit, in der jede Person und jede Äußerung nach identitätspolitischen Kriterien sortiert und punziert wird, stellt sich Gorman hin und verwendet das universelle „Wir“.
Nicht, weil sie sich nicht ihrer Identität bewusst wäre. Unterdrückung, ethnische Zugehörigkeit, Feminismus sind die Themen von Gormans Poesie. Und jeder wäre blind, der nicht sieht, wer Gorman ist und für wen sie kämpft. Aber genau diese Position verschafft ihr die Möglichkeit, als „Wir“ zu sprechen, zu fordern und ein Gedicht vorzutragen. Bei Gorman war klar, dass jeder und jede gemeint war.
Nur an einer Stelle greift die „Wir“-Erzählerin sich selbst als Beispiel heraus: „Wir, die Nachfahren eines Landes und einer Zeit,/ in der ein dünnes, schwarzes Mädchen, das von Sklaven abstammt und von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen wurde,/ davon träumen kann, Präsidentin zu werden/ nur um sich selbst in einer Situation zu finden, in der sie für einen vorträgt.“ (Übersetzung vom Redaktionsnetzwerk Deutschland)
Das dünne, schwarze Mädchen ist eine von 328 Millionen Bürgerinnen und Bürgern. Alle gemeinsam haben einen Auftrag: „The Hill We Climb“.