Robert Treichler: Ouf!
Falls Sie in der Schule Französisch gelernt haben, werden Sie jetzt gleich Grusel verspüren.
Folgendes ist passiert: In Frankreich wurden in den vergangenen Tagen nacheinander zwei Beschlüsse gefasst, die sich um die Gleichberechtigung der Geschlechter drehen. Erst ließ Bildungsminister Jean-Michel Blanquer eine Anweisung veröffentlichen, die es untersagt, in Schulen die sogenannte „inklusive“ oder „gendergerechte“ Sprache zu verwenden. Diese sei „kompliziert“ und würde „die Weitergabe der Sprache behindern“.
Dazu muss man wissen, dass das Französische für gendersensible Personen eine zur Sprache gewordene Dauerkränkung ist. Nicht nur, dass jedes Hauptwort – wie im Deutschen – ein grammatikalisches Geschlecht hat, auch Eigenschaftswörter, Partizipien und Wörter wie „alle“ tragen eine Endung, die das Geschlecht (und Ein- oder Mehrzahl) anzeigen. Ein Beispiel: Der Satz „Alle Leser sind intelligent“ ist im Deutschen vergleichsweise einfach zu genderneutralisieren: „Alle Leser:innen sind intelligent.“
Der Doppelpunkt in der Mitte steht für nichtbinäre (also weder männliche noch weibliche) Personen, die weibliche Endung kommt hinten dran, fertig. Im Französischen jedoch wird aus „Tous les lecteurs sont intelligents“ folgender Satz: „Tous les lecteurs et toutes les lectrices sont intelligent·e·s.“ oder auch „Tout·e·s les lecteur·rice·s sont intelligent·e·s.“ Das allerdings ist erst die männlich-weibliche Schreibung, die nichtbinäre Ergänzung allein des Wortes „tous“ sieht so aus: „Tout·x·es“.
Uff! Oder, wie der Franzose sagt: Ouf! Die Menge an erforderlichen Pünktchen und Endungen erinnert an ein Morsealphabet mit Fußnoten, und der Bildungsminister fürchtet wohl nicht ganz zu Unrecht, eine solche Sprache würde nur noch sehr schwer zu erlernen sein. Sehbehinderte, die in Braille-Schrift lesen, wären zudem arg verwirrt. Und das Französische hätte als eine der Weltsprachen ausgedient.
Zur Erinnerung: Die gendergerechte Sprache soll die verschiedenen Geschlechter sichtbar machen, denn dies – so die Theorie – habe eine direkte Wirkung auf die Realität. „Sprache schafft Realität“, lautet die Formel. Der zweite Beschluss zum Thema Gleichberechtigung hat mit der Sprache nichts zu tun: Das französische Parlament verabschiedete einstimmig ein Gesetz zur „wirtschaftlichen und realen beruflichen Gleichheit“.
Dieses legt fest, dass Unternehmen mit mehr als 1000 Mitarbeitern bis zum Jahr 2027 in ihren Führungsgremien – also den Vorständen – einen Frauenanteil von 30 Prozent erreichen müssen, bis 2030 steigt dieser Wert auf 40 Prozent. Kommen Unternehmen dieser Vorgabe nicht nach, setzt es ab 2030 Geldstrafen. Liberale, Sozialisten, Grüne und Konservative sind sich einig, dass diese Maßnahme, die bei den Aufsichtsräten das gewünschte Ergebnis gebracht hat, jetzt auch auf der Ebene des Managements nötig und richtig ist.
Marie-Pierre Rixain, die Abgeordnete der Regierungspartei La République en Marche, die den Gesetzesvorschlag eingebracht hatte, weinte vor Freude.
Viele Einwände gegen solche Quotenregeln sind längst obsolet, insbesondere der, wonach es zu wenige Frauen gäbe, die für diese Jobs geeignet seien. Wenn Regierungen paritätisch besetzt werden können, sollte das auch bei Vorständen klappen.
Das Gesetz begnügt sich nicht bloß damit, die Quote zu verordnen, es sieht auch vor, dass Plätze in Kindergärten bevorzugt an Kinder von Alleinerzieherinnen vergeben werden und dergleichen.
Das sind reale Veränderungen im Wirtschaftsleben, die die Karriere von sehr vielen Frauen betreffen – oder besser: befördern. Sprachlich ändert sich hingegen gar nichts. „Führungskraft“ heißt im Französischen „cadre“, und ist ein männliches Nomen. Es gilt jedoch als geschlechtsneutral, da es auf Frauen und Männer ohne Abwandlung gleichermaßen anwendbar ist. Macht es die Geschlechter sichtbar? Nein. Denkt man beim Wort „cadre“ eher an Männer oder an Frauen? Wohl eher an Männer. Doch genau das ist keine Frage des grammatikalischen Geschlechts, sondern der Realität. Das französische Wort „mannequin“ ist nämlich ebenfalls ein geschlechtsneutrales, männliches Nomen, und doch denken bestimmt die meisten eher an eine Frau, wenn sie es hören.
Ich weiß nicht, was es braucht und wie lange es dauert, bis weibliche Führungskräfte oder männliche Mannequins in den Bildern, die von Wörtern in unseren Köpfen (angeblich) hervorgerufen werden, gleichberechtigt vertreten sind. Ich bin mir aber sicher, dass es einen riesigen – realen – Unterschied macht, wenn in den kommenden Jahren in Frankreich eine Konferenztür nach einer Vorstandssitzung aufgeht und mindestens 30 Prozent und bald 40 Prozent Frauen herauskommen.
Das schaffen keine Pünktchen und keine noch so ausgeklügelten Endungen, die an Nomen, Partizipien und Adjektiva angehängt werden. Die taugen bloß als Alptraum für Schüler.
Das Gleichberechtigungsgesetz hingegen sollten wir ins Deutsche übersetzen. Und beschließen.