Robert Treichler: War es der falsche Krieg?

Die USA ziehen aus Afghanistan ab. Sie sind gescheitert – aber nicht gänzlich.

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In der Woche nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 auf New York und Washington saß ich mit dem amerikanischen Schriftsteller Paul Auster auf der Terrasse seines Hauses im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Wir sahen über den East River nach Manhattan rüber, wo aus den Trümmern der eingestürzten Türme des World Trade Centers immer noch Rauch aufstieg.

Es war, den Umständen entsprechend, ein ungewöhnliches Interview. „Haben Sie Angst?“, fragte ich Auster, und er antwortete: „Ja, natürlich. Ich glaube, jeder hat jetzt Angst. Wie sollte man keine Angst haben?“ Dann sprachen wir über den Krieg, der noch nicht begonnen hatte, aber unausweichlich schien. US-Präsident George W. Bush hatte den Taliban eben ein Ultimatum gestellt, Osama Bin Laden, den Anführer der Terrororganisation Al Kaida, und alle seine Mitstreiter an die USA auszuliefern.

Auster, politisch nach eigener Einschätzung „links der Demokratischen Partei“ beheimatet, hielt eine begrenzte Operation zur Ergreifung der Terrorpaten in Afghanistan für gerechtfertigt, doch er warnte vor einem groß angelegten Einmarsch: „Wir hatten Vietnam. Wir sollten unsere Lektion gelernt haben.“ (profil Nr. 39/ 2001)

Jetzt, fast 20 Jahre später, geht der Krieg, der damals in der Luft lag, zu Ende. Es war der längste, den die USA je geführt haben. Hat Paul Auster recht behalten? War die „Operation Enduring Freedom“ (Operation andauernde Freiheit), wie die Militäraktion von 2001 bis 2014 hieß, ein Fehler?

Insgesamt wurden etwa 150.000 Menschen in diesem Krieg getötet, darunter mehr als 3500 Soldaten der US-Allianz und 30.000 Zivilisten. Die USA gaben in den zwei Jahrzehnten etwa 800 Milliarden Dollar (670 Milliarden Euro) für die Militäroperationen aus, also nicht ganz die Hälfte dessen, was der US-Kongress jetzt für das größte Konjunkturprogramm aller Zeiten zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Pandemiefolgen beschlossen hat.

Präsident Biden sagte in seiner Rede, in der er den Abzug aller Truppen bis längstens 11. September dieses Jahres verkündete, die USA hätten ihr erklärtes Ziel erreicht: die Al Kaida zu vertreiben und sicherzustellen, dass Afghanistan nie wieder als Ausgangspunkt für einen Terroranschlag auf die USA dienen würde.

Das war tatsächlich eines der Ziele, allerdings hatte bereits Bidens Vorvorvorgänger George W. Bush 2003 bei einem Besuch in Afghanistan verkündet, eben dies geschafft zu haben. In Wahrheit ging es am Hindukusch um viel mehr. Die US-geführte Koalition wollte aus dem mittelalterlichen, von Islamisten beherrschten Afghanistan einen demokratischen Staat formen, der die Menschenrechte achtet – und den USA als Verbündeter in der Region dient. Dazu sollten die Taliban weitgehend entmachtet und nebenbei Korruption und Drogenproduktion eliminiert werden.

„Der Krieg in Afghanistan bleibt ein trauriges Kapitel. Häme gegenüber den USA ist unangebracht.“

Das alles hat trotz großer Anstrengungen nicht geklappt. Die radikal-islamistischen Taliban kontrollieren immer noch einen großen Teil des Landes, und die Gefahr, dass die Regierung in Kabul bald nach dem Abzug der US-Truppen stürzt, ist groß. Mit seiner Ankündigung bekennt Biden ein, dass er nicht mehr an eine Verbesserung der Lage glaubt. Die Taliban feiern dies wie einen Sieg, und das nicht zu Unrecht.

Haben die USA also so gut wie gar nichts erreicht?

Das wäre ein vorschnelles Urteil. Jedenfalls haben die US-Truppen 20 Jahre lang dafür gesorgt, dass die barbarische Variante eines islamischen Staates, wie er den Taliban vorschwebt, verhindert werden konnte. Stattdessen herrschte in manchen Landesteilen zumindest so viel Sicherheit, dass unzählige Initiativen zur Modernisierung des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens gestartet werden konnten. Minderheiten und Frauen waren besser geschützt, Mädchen – wenn auch bei Weitem nicht alle – gingen zur Schule.

40 Prozent der Studierenden sind heute weiblich. Dieser großartige Fortschritt wäre unter den Taliban, denen Bildung und Arbeit für Frauen als „unsittlich“ gilt, unmöglich gewesen.

Kann man sagen, dass es umsonst war, 20 Jahre lang für ein etwas besseres Leben in Afghanistan zu sorgen, wenn jetzt die Gefahr besteht, dass sich alles wieder zum Schlechten wendet? Keine einfache Frage.

In den zwei Jahrzehnten der Präsenz westlicher Truppen hat sich auch so etwas wie eine aufgeklärte, urbane Gesellschaft herausgebildet. Nicht nur die Infrastruktur wurde modernisiert, Straßen gebaut, eine Verwaltung organisiert; auch die Leute, die daran beteiligt waren, haben Modernität schätzen gelernt.

Wenn eine Supermacht in ein Land einmarschiert, nimmt sie dort Verantwortung auf sich. Auch Paul Auster hat das anerkannt, als er 2008 in einem Interview mit dem „Handelsblatt“ mehr US-Soldaten für Afghanistan forderte: „Nach dem Sieg über die Taliban hätten wir umfangreiche Truppen dort stationieren und viel Geld aufwenden müssen, um das Land zu sichern und aufzubauen.“

Der Krieg in Afghanistan bleibt letztlich ein trauriges Kapitel. Häme gegenüber den USA ist unangebracht.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur