Rosemarie Schwaiger: Auf Triebjagd
Harvey Weinstein konnte nicht einmal abtreten, ohne einen Blockbuster zu produzieren: Ziemlich genau einen Monat ist es nun her, seit der Rest der Welt erfuhr, was in Hollywood offenbar jeder gewusst hatte. Der erfolgreiche Filmproduzent Weinstein ist ein Wüstling, mutmaßlich sogar ein Vergewaltiger. Erst redeten nur seine Opfer, dann Zigtausende Opfer anderer Übeltäter rund um den Globus. Die Internetaktion #MeToo sprengt alle bisherigen Dimensionen dieses Genres. Kaum ein Tag vergeht ohne neue Einblicke in das Gruselkabinett des Sexismus. Die Kampagne signalisiere, dass „Frauen nicht mehr bereit sind, patriarchale Hierarchien selbstverständlich hinzunehmen“, schreibt Elfriede Hammerl im profil der Vorwoche. Ich halte das für eine zu wohlwollende Analyse. Bei mir kommen andere Signale an.
Unter #MeToo finden sich erschütternde Berichte über Vergewaltigungen und Missbrauch. Vor Gericht wären sie besser aufgehoben als im Internet, aber vielleicht hilft es den Opfern, ihre Geschichte zu erzählen. Daneben gibt es allerdings auch eine Menge Anekdoten, die sich genauso gut unter #Ärgernis zusammenfassen ließen. Zuletzt wurde der Druck offenbar sehr groß, „MeToo“ zu rufen, auch wenn die eigene Erinnerung nichts Dramatisches hergibt. Eine österreichische Grün-Politikerin schaffte es auf das Cover von „News“, weil sie erzählen konnte, dass sie bei einem Besuch des Forum Alpbach von einem renommierten Wissenschafter zur Begrüßung am Ohr gezogen worden sei. Eine Internetjournalistin beklagte in der Zeitschrift „Woman“, sie werde häufig von Gesprächspartnern gefragt, ob sie mit ihnen etwas trinken gehen wolle. Außerdem gebe es dienstliche Termine, bei denen die Männer gar nicht über die Arbeit reden wollten. „Das ist oft sehr unangenehm und macht mich wütend“, sagte die Frau.
Absolute Sicherheit vor unerwünschter Anmache oder Schlimmerem wäre nur gegen die Aufgabe sämtlicher bürgerlicher Freiheiten zu haben. Dieser Preis erscheint mir zu hoch.
Harvey Weinstein führt in diesem Opus nicht mehr Regie – aber die Entwicklung des Plots könnte ihm gefallen. Vor ein paar Wochen galt er noch als ungustiöser Einzelfall, jetzt ist er einer unter Millionen, die sich schlecht benehmen. Die Grenze zwischen Missbrauch und Missverständnis wurde in der Berichterstattung quasi aufgehoben. Und zwar ausgerechnet von jenen Feministinnen, denen Sprache sonst gar nicht exakt genug sein kann. Egal, ob einer mit K.-o.-Tropfen und Gewalt seinen Willen durchsetzt oder nur zu lange in einen Ausschnitt glotzt: Sextäter sind sie alle.
Wohin die Kampagne im Idealfall führen soll, bleibt indes unklar. Strengere Gesetze? Das geht schlecht; in den Ländern, in denen aktuell am meisten geoutet wird, ist das juristische Regime bereits so strikt, dass man es kaum noch verschärfen kann, ohne menschliche Interaktion grundsätzlich zu kriminalisieren. Eine bessere Welt? Darauf kann man natürlich immer hoffen. Erste Ergebnisse der Triebjagd gehen leider nicht in diese Richtung: Der Chefredakteur einer österreichischen Tageszeitung (den Namen ersparen wir uns hier; er stand eh schon überall) wurde fristlos entlassen, weil er vor einem Dreivierteljahr einer freien Mitarbeiterin eine anzügliche Facebooknachricht geschickt hatte. Es gab, soweit bekannt, keine physischen Übergriffe und keine einschlägige Vorgeschichte des Delinquenten. Auch der Wortlaut des inkriminierten Textes wurde nicht verlautbart. Trotzdem gilt es in weiten Teilen der heimischen Elite als angemessene Sanktion, den Mann beruflich, privat und in jeder anderen Hinsicht zu ruinieren. Noch mal zur Erinnerung: wegen eines Chats im Internet. Ist das wirklich die Gesellschaft, in der wir leben wollen?
Der Zeitgeist hat mit den Grapschern, Belästigern und Nötigern längst kurzen Prozess gemacht. Das ist ein Verdienst des Feminismus, für den wir alle dankbar sein können.
Die schiere Menge der Geschichten erzeugt den Eindruck, dass Männer noch nie so triebgesteuert und enthemmt waren wie heute. Aber das ist zum Glück falsch; eine Internetplattform eignet sich nicht zur Vermessung der Realität. Bis auf ein paar Dinosaurier aus der Generation Weinstein haben die meisten Männer durchaus kapiert, dass ihre Gelüste nicht der Maßstab des Machbaren sind. Und anders als in den 1950er-Jahren steht den Frauen heute ein breites Instrumentarium der Gegenwehr offen – die öffentliche Meinung inklusive. Der Zeitgeist hat mit den Grapschern, Belästigern und Nötigern längst kurzen Prozess gemacht. Das ist ein Verdienst des Feminismus, für den wir alle dankbar sein können. Jetzt so zu tun, als habe sich gar nichts gebessert, schmälert die Erfolge jener Frauen, die wirklich noch allein gegen alle kämpfen mussten. Absolute Sicherheit vor unerwünschter Anmache oder Schlimmerem wäre nur gegen die Aufgabe sämtlicher bürgerlicher Freiheiten zu haben. Dieser Preis erscheint mir zu hoch.
Wirklich ärgerlich ist der Anschein weiblicher Hilflosigkeit, der mit solchen Kampagnen zwangsläufig einhergeht. Sogar schwedische Ministerinnen nützten jüngst das Internet, um über ihre schlechten Erfahrungen mit Männern zu berichten. Abgesehen davon, dass es im Mutterland der Gleichberechtigung genug Möglichkeiten gibt, sich aufdringliche Kerle vom Hals zu schaffen: Das Zelebrieren der Opferrolle wird niemanden froh machen. Gilt das feministische Diktum eigentlich noch, wonach uns Frauen 50 Prozent der Macht zustehen? 100 Prozent Mitleid für unsere Ohnmacht sind dafür kein attraktiver Ersatz.